Die zwei Leben der Lottie

Die jüdische Bremerin Charlotte Abraham-Levy kehrte nach langer Zeit wieder in ihre Geburtsstadt zurück. Der Anlaß ist die Buchpremiere ihrer Biographie am Sonntag in der jüdischen Gemeinde. In einem Gespräch berichtete sie der taz von ihrer Bremer Kindheit und Jugend sowie ihrem Weg ins Londoner Exil  ■ Von Susanne Leinemann

Eine schöne Stimme, sanft und ein wenig rauh zugleich. Die S-Laute sind spitz gesprochen, wie es echte Hanseaten eben tun. Aber da ist dieser englische Akzent, der jedes Wort begleitet. Er macht neugierig.

Die ältere Dame sitzt, eingerahmt zwischen Verleger und Autorin, auf der Bühne der Aula im „Alten Gymnasium“des Stadtteiles Mitte – früher die „Kleine Helle“genannt. Zweihundert Schüler der Oberstufe betrachten sie etwas verwundert. Irgendwann war die Frau auch auf dieser Schule.

Dann fängt Charlotte Abraham-Levy an zu erzählen, redet von Verhaftung, „Kristallnacht“und Blutergüssen. Und lächelt dabei. „Es ist ja auch schon lange her“, sagt sie und zuckt fast entschuldigend die Schultern. Ein jüdisches Schicksal in der Zeit des Nationalsozialismus.

Erwachsen werden

Ein Photo zeigt Lottie mit baumelnden Zöpfen auf dem Schoß ihres Vaters Max Abraham. Damals war sie dreizehn: ein lachendes, hübsches Kind. Ein Jahr später, 1937, mußte sie das Mädchengymnasium „Kleine Helle“verlassen. Niemand zwang sie offen dazu, der Druck ist subtiler: ein Ausschluß vom Klassenausflug, Juden unerwünscht. Im November 1938 wird jüdischen Kindern per Gesetz der Besuch öffentlicher Schulen verboten. Doch da ist Lottie schon über ein Jahr in der Lehre beim Uhrengroßhandel Max Meyer in der Sögestraße.

Mit ihrem ersten Lohn ging Lottie zum Frisör. Die Zöpfe sollten ab, jetzt war sie erwachsen. Stolz kehrte sie mit damenhafter Dauerwelle nach Hause zurück. „Meine Mutter war so böse. Sie ist zum Frisör gerannt: Wie können Sie das machen. Meiner Tochter einfach so die Zöpfe abschneiden, ohne meine Erlaubnis?“, erzählt sie lachend im Rückblick. Aus der kleinen Lottie wird Fräulein Charlotte Abraham. Jetzt ist sie vierzehn Jahre alt.

Exil in England

„Du weißt, der Ruf eines jungen Mädchens ist wie eine weiße Schürze, wenn ein Fleckchen daran ist, ist sie nicht mehr tadellos“, steht in einem Brief der Mutter aus dem Mai 1939. Lotties Eltern müssen der sechzehnjährigen Tochter schreiben. Charlotte Abraham lebt alleine in England im Exil. Über das Kinderhilfswerk hat sie ein Visum für die Flucht erhalten, während die Eltern noch auf die Auswanderung warten.

Trotz der Entfernung versuchen die Eltern, ihre Tochter zu unterstützen. Sie geben Ratschläge, wollen helfen, aber sie können es nicht. „Kleines“nennen sie Lottie liebevoll in Briefen, vielleicht um ihr ein Stück der Kindheit zu bewahren, die so abrupt zu Ende ging. Lottie macht seit 1941 eine Ausbildung zur Krankenschwester.

Charlotte Abraham-Levy ist immer Krankenschwester geblieben. Bis zu ihrem 72. Lebensjahr hat sie gearbeitet. Es machte ihr Spaß. Nun hat sie seit zwei Jahren aufgehört, aber müde ist sie noch lange nicht. „Lottie-Liebling“, fragte vor kurzem ein Bekannter in England, „fährst du eigentlich noch Auto?“Aber natürlich, gab sie entrüstet zurück, warum denn nicht? Charlotte Abraham-Levy steht voll im Leben. Und sie hat viel Leben hinter sich.

Kindheit in Bremen

1923 wurde Charlotte Abraham in Bremen geboren. Ein „Wildfang“war sie, sagt sie über sich selbst. „Ich bin über die Zäune, bis die Hose kaputt war.“Besonders liebte das Mädchen den Stadtgraben in den Wallanlagen, auf dem die Enten schwammen. Mit zehn Jahren – 1933, kurz nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt wird – hebt sie als Kind den Arm zum Hitlergruß, als die SA-Männer vorbeimarschieren. Sie wollte sich nicht unterscheiden von der Menge, nicht anders sein als die anderen Menschen – als andere Kinder. Nur nicht auffallen.

Doch sie fällt auf, denn sie ist Jüdin. Mit jedem Jahr nehmen die Verbotsschilder zu. „Juden unerwünscht“steht auf den Parkbänken der geliebten Wallanlagen, am Eingang des Schwimmbades, an der Kasse des Theaters. Nun mußte Lottie zwar nicht mehr in Wagner-Opern, in die sie ihre Mutter schickte, „um mir ein bißchen Kultur einzutrichtern“. Aber die Zeit der Besuche von leichten Operetten sind auch vorbei, genauso wie der Spaß am Park. „Das Verbotsschild hat genügt, um einem den ganzen Geschmack zu verderben.“

Ins Exil wollte die Familie Abraham trotz der Einschränkungen nicht gehen. Es ist noch vor der „Reichskristallnacht“. Lotties Mutter Else war Krankenschwester im Ersten Weltkrieg, der Vater Max alteingesessener Bremer Textilhändler. Natürlich war man jüdisch – die Religion spielte besonders für Max Abraham eine große Rolle – aber genauso war man deutsch. „Es wird schon besser werden“, sagte die Mutter, und die kleine Familie pflichtet ihr bei. Freunde und Verwandte verlassen das Land.

„Auf einmal ist der Groschen gefallen.“Charlotte Abraham-Levy spricht über den 9. und 10. November 1938. In Bremen brannte die Synagoge. Die Familie wurde verhaftet, Mutter und Tochter kamen abends frei. Der 63jährige Vater mußte bleiben, verschwand für Wochen im KZ Sachsenhausen bei Berlin. Nach der Wiederkehr war sein Körper ausgehungert und zerschunden.

Mutter Else erkannte als Krankenschwester die blauen Flecken: Sie stammten von Schlägen. Reden wollte und konnte Max Abraham nicht über die Zeit. Nur manchmal sank er in sich zusammen, schüttelte den Kopf und murmelte. „Was ist denn?“, fragte dann seine Frau. „Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete er. Jetzt bemüht sich die Familie um ein Visum für Amerika.

Heimatliebe

Nach dem Holocaust leben die Verwandten von Charlotte Abraham-Levy in der ganzen Welt verstreut. Vor einigen Jahren wollte sie sich mit dem Witwer ihrer an Krebs verstorbenen Cousine in Israel treffen. Die beiden hatten sich seit Jahren nicht gesehen. „Woran soll ich dich erkennen?“, fragte sie am Telephon. Das sei kein Problem, er säße mit einer deutschen Zeitung im vereinbarten Cafe und würde lesen. „Als ich hineinkam, saßen dort mehrere ältere Herren, die alle deutsche Zeitung lasen.“

Charlotte Abraham-Levy bricht mit der Heimat. Kurz nach dem Krieg erfuhr sie, was mit ihren Eltern geschah, von denen sie seit September 1941 nichts mehr hörte. Sie waren, zusammen mit 440 anderen Bremer Juden, in das Ghetto Minsk deportiert worden und dort umgekommen. „Danach habe ich mich nicht mehr als Deutsche gefühlt.“1947 erhalten Charlotte Abraham und ihr Mann Hans Levy, den sie 1944 im Exil heiratete, die englische Staatsbürgerschaft.

Lottie liebte Bremen. „Ich war eine echte Heimatpatriotin.“Die Eltern unterstüzten noch in den letzten Briefen die Heimatliebe, bevor der Kontakt zur Tochter abbrach. Vater Max versuchte auf begehrten Briefbögen mit Bremer Ansichten, den Stolz seiner Tochter auf die Geburtsstadt in der Ferne aufrechtzuerhalten. Er selbst hatte kein Auge mehr für Bremen. „Ich war gestern Nachmittag längere Zeit in den Wallanlagen, aber man hat gar kein richtiges Interesse mehr für die Umgebung“, schreibt er 1939. Während die Eltern auf ein Visum des US-Konsulates warten, das nie eintrifft, arbeiten sie ehrenamtlich für die jüdische Gemeinde. Vater Max ist der letzte Rabbi vor der Deportation. Der eigentliche Rabbi konnte im März 1939 gerade noch auswandern.

Erinnerungen

Erst 1975 kam Charlotte Abraham-Levy wieder nach Bremen. Sie war mit ihrem Mann auf einer Durchreise. Jetzt ist sie wieder in ihrer Geburtsstadt. Aus gutem Anlaß: Ein Buch ist über sie entstanden, geschrieben von der Sozialwissenschaftlerin Bettina Decke. Ein Buch, das sich viel Platz nimmt, behutsam das Einzelschicksal von Charlotte Abraham in die Zeit einzuordnen. Am Sonntag wird es auf einer Lesung in der jüdischen Gemeinde vorgestellt.

Als Charlotte Abraham-Levy 1994 für das Buch Gespräche mit der Autorin Decke führte, fiel ihr auf, wie wenig sie in all den Jahren über ihre Kindheit und Jugend gesprochen hatte. „Lottie ist vorsichtig und zurückhaltend im Erinnern“, schreibt Decke. „I cut it off“– ich habe es rausgeschnitten – sagt Levy selber, und sie meint damit die Gefühle, die Erinnerung und den Schmerz über das Vergangene. In England hat sie begonnen, sich ein zweites Leben aufzubauen.

Es scheint Ironie der Geschichte, daß die Stadt Bremen Charlotte Abraham im September 1948 voreilig für tot erklärte. Doch sie meldete sich zurück, wollte Beihilfe für ihr neues Leben in England. Von den Eltern war nichts geblieben. Das Haus mußte die Familie 1938 an „Arier“verkaufen. Die in Container verpackten Möbel verbrannten nach einem Bombenangriff vermutlich im Hafen Rotterdam. Charlotte Abraham-Levy erhielt 5000 Mark „Entschädigung“und eine Bestätigung des Bremer Amtsgerichtes: „Die Verschollene hat ihre Toterklärung überlebt.“Und ihre schöne Stimme mit den spitzen S-Lauten mit ihr.

Bettina Decke: „Du mußt raus hier!“. Lottie Abraham-Levy: Eine Jugend in Bremen, Donat Verlag 1998, 19.80 DM