Ringfahndung am Haff

Im russischen Rybatschij werden Tausende Vögel registriert. Die älteste Vogelwarte der Welt erforscht den Vogelzug und lebt von Spenden. Touristen sind gern gesehen, wenn sie nicht in Brutgebieten herumtrampeln  ■ Von Martin Ebner

Bei welchem Reisebüro können sich Zugvögel beschweren? So hatte sich das Goldhähnchen seinen Flug in den Winterurlaub nicht vorgestellt: Unzufrieden baumelt es im Netz. Plötzlich sieht sich der kleine Vogel von zwei riesigen Händen gepackt, in ein Labor verschleppt und auf eine Waage geworfen. „2,8 Gramm, Feder F8“ hört er eine Stimme sagen, „jetzt noch Flügellänge, Fett- und Mauserzustand.“ Dann verpassen ihm die Hände mit routinierten Griffen einen kleinen numerierten Fußring, eine Art Vogelreisepaß – und nach nicht mal zwei Minuten schmeißen sie ihn einfach zum Fenster raus. Empört flattert das Goldhähnchen davon. Ob es sich jemals wieder in der Biologischen Station Rybatschij blicken lassen wird?

Jedenfalls ist kaum ein Ort so gut zur Vogelbeobachtung geeignet wie Rybatschij (ehem. Rossitten), ein kleines Dorf nördlich von Kaliningrad. Die nordeuropäischen Wald- und Feldvögel fliegen nicht gern übers Meer – deshalb folgen sie der Kurischen Nehrung, der schmalen Landzunge zwischen Ostsee und Haff. Die Wasservögel dagegen wollen möglichst lange Meer unter sich sehen – und fliegen daher ebenfalls über Rybatschij, wo Schilf und viele Sträucher zur Rast einladen.

Vom Interkontinental-Flughafen Rybatschij aus wird die lange Herbstreise in drei Richtungen fortgesetzt: Die Zaunkönige zieht es nach Westen: England und Spanien; nach Mitteleuropa fliegen Buchfinken, Meisen, Amseln und Würger. Schwalben und Sumpfrohrsänger verlassen Rybatschij schon Anfang August – sie wollen bis Südafrika. Rotkehlchen dagegen lassen sich bis Oktober Zeit – sie überwintern in Süddeutschland.

Nach Osten starten Grasmücken und ein Teil der Störche, ihr Ziel ist die Türkei. Karmingimpel kommen bis Indien.

Daß dieser rege Flugverkehr ideale Bedingungen für Vogelforscher bietet, erkannte schon Ende des letzten Jahrhunderts Pfarrer Johannes Tienemann. Mit Geld der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gründet er 1901 in Rossitten die erste Vogelwarte der Welt. Weil er auf die Idee kam, die Vögel zu beringen, konnte er nachweisen, daß sie über 10.000 Kilometer zurücklegen können. 1944 mußte die Vogelwarte Rossitten aufgegeben werden. Sie zog nach Radolfzell an den Bodensee, wo sie bis heute in Schloß Möggingen arbeitet.

Nach der sowjetischen Eroberung Ostpreußens standen die Institutsgebäude leer – bis 1956 der russische Professor Lew Belopolski aus einem sibirischen Gefängnis entlassen wurde und in Rybatschij wieder eine Vogelwarte aufbauen konnte.

Auch die neue Forschungseinrichtung wurde rasch weltweit bekannt. Die rund 30 ständigen Mitarbeiter kommen meist vom Zoologischen Institut St. Petersburg und arbeiten nur von Ende März bis Anfang November in Rybatschij. Sie sind stolz darauf, daß ihre Station schon über 600 wissenschaftliche Bücher über Zugvögel veröffentlicht hat.

In Herbst und Frühjahr ziehen über eine Million Vögel über Rybatschij. Besonders hoch fliegende Arten werden vom Dach der Vogelwarte aus gezählt, nachts mit Hilfe eines Scheinwerfers. Am Boden werden in über 200 Netzen und 18 Meter hohen Vogelreusen pro Jahr bis zu 100.000 Vögel gefangen.

„Im Herbst beringen wir von morgens bis abends. Wenn man an einem Tag schon 9.000 Vögel registriert hat, muß man aufpassen, daß man nicht Rotkehlchen mit Goldkehlchen verwechselt“, berichtet Petra Wurst. Die Biologin aus Gießen lebt schon seit zwei Jahren in Rybatschij und sammelt Material für ihre Doktorarbeit. „In Deutschland würde ich nirgends eine so starke Zugvogelkonzentration und über 200 verschiedene Vogelarten finden.“

Ihre Arbeit sei recht anstrengend: „Wir müssen die Netze jede Stunde kontrollieren, sonst wildern Krähen und Katzen. Bei Regen müssen wir sogar alle 30 Minuten durchgehen, weil die Vögel so schnell auskühlen.“ Nicht alle lassen sich einfach aus dem Netz holen: „Blaumeisen sind recht kämpferisch. Und Neuntöter haben Widerhaken am Schnabel.“

Oft ist die Mühe vergebens. Die registrierten Vögel scheren sich um keine Grenzkontrolle und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Bei Großvögeln wie den Waldohreulen wird immerhin jeder zehnte Ring wiedergefunden – bei den kleinen Buchfinken dagegen von 200 Ringen im Schnitt nur ein einziger. „Die Vögel fliegen eben über Gebiete wie den Balkan oder Afrika, wo die Menschen andere Sorgen haben, als auf Vogelringe zu achten“, erklärt Petra Wurst.

Trotz der geringen Rücklaufquote und obwohl manche Tierschützer die Beringung für schädlich halten, gebe es dazu „bisher keine Alternative“. Die damit gewonnenen Ergebnisse würden „gerade auch aus Naturschutzgründen gebraucht“ – wie sonst könne man denn zum Beispiel den starken Rückgang der Singvogelarten nachweisen? Solche ökologischen Fragestellungen werden in Rybatschij allerdings erst seit letztem Jahr bearbeitet.

Andererseits können alte Projekte wegen Geldmangel nicht fortgesetzt werden – Exkursionen nach Mittelasien wie noch zu Sowjetzeiten sind heute nicht mehr möglich.

„Selbst zu unseren Nachbarvogelwarten in Litauen haben wir keine Kontakte mehr“, bedauert die Biologin Nadja Silinowa. „Die Balten haben noch weniger Geld für Wissenschaft übrig als Rußland. Wir müssen uns deshalb an Westeuropa orientieren.“

Zusammen mit Radolfzell und 40 anderen Fangstationen in Europa und Afrika nimmt Rybatschij seit 1994 am ESF-Programm teil, in dessen Rahmen der Vogelzug von Skandinavien über Gibraltar bis zum Äquator erforscht wird. Ermöglicht wird die Mitarbeit durch Spenden aus Westeuropa, erläutert Nadja Silinowa: „Von der Russischen Akademie der Wissenschaften bekommen wir seit vier Jahren nur die Gehälter überwiesen – nichts für Strom, Benzin oder Geräte. Aber die Schweden haben uns zum Beispiel 30.000 Vogelringe geschenkt. Unser deutscher Freundeskreis und die Heinz-Sielmann-Stiftung haben allein in diesem Jahr 50.000 Mark geschickt.“

Eine weitere Geldquelle sind Touristen. Seit Kaliningrad nicht mehr Sperrgebiet ist und von Berlin aus bequem über Nacht erreicht werden kann, kommen pro Jahr bis zu 5.000 Besucher. „Leider sind das überwiegend Tagestouristen – Rentner aus Deutschland, die hier nur ihr altes Ostpreußen suchen. Für unsere Arbeit interessieren die sich überhaupt nicht“, ärgert sich Petra Wurst. Auch würden Ignoranten, die „auf den Brutplätzen herumlaufen“, zunehmend „ein echtes Problem“. Interessierte Naturfreunde dagegen seien „herzlich eingeladen“. Sie müßten genug Zeit für die einzigartige Küstenlandschaft der Nehrung mitbringen, dürften sich nicht an der spartanischen Einrichtung der Biostation stören und den Forschern nicht auf die Nerven gehen. „Dafür haben sie die einmalige Möglichkeit, am Einfangen und Beringen vieler verschiedener Vogelarten teilzunehmen“, schwärmt die Deutsche.

Wenn die Gäste einmal genug von all den Vögeln haben, ist es auch nicht schlimm. Sie können dann in den Wald gehen: Elche beobachten.

Die Biologische Station Rybatschij, Kaliningrad obl., 238535 Rußland, ist am besten per E-Mail zu erreichen: postmaster@bioryb.koenig. su

Der Freundeskreis der Vogelwarte Rybatschij hat rund 100 Mitglieder. Sitz: Vogelwarte Radolfzell, Tel.: (07732) 150 133

Wer einen Vogelring findet, sollte ihn an die nächste Vogelwarte schicken. Eine Belohnung gibt's dafür nicht, aber der Finder erhält die Daten „seines“ Vogels. Adresse für Deutschland und Österreich: Vogelwarte Radolfzell, D-78315 Radolfzell. Für die Schweiz: Schweizerische Vogelwarte, CH-6204 Sempach, Tel.: (0041) 462 97 00

Im Herbst und Frühjahr ziehen über eine Million Vögel über Rybatschij

Bei den Waldohreulen wird immerhin jeder zehnte Ring wiedergefunden

Spieglein, Spieglein an der Autotür, wer ist der schönste Vogel im Revier? Die Vogelforscher von Rybatschij müßten es wissen Foto: Frank Bierstedt