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Acht Jahre danach: Blick zurück nach vorn

26 Schüler besuchten 1989 die 7. Klasse der Gerhart-Hauptmann-Schule in Köpenick. Nachdem die Mauer am 9. November fiel, mußten sie sich in kürzester Zeit in einem fremden Gesellschaftssystem zurechtfinden. Sechs SchülerInnen erinnern sich und sprechen über heute  ■ Von Alexander Eschment

„Ich wünsche mir die Mauer und die alten Zeiten zurück“, platzt es aus Micha heraus. Das sitzt. Plötzlich ist es still in der Schöneweider Wohnung. Der Fernseher flimmert ohne Ton, und die Kuscheltiere, die sich auf der Schrankwand und der Sitzgarnitur drängeln, starren stumm vor sich hin. Michas Freundin ist die erste, die die Fassung wieder findet. „Du spinnst wohl!“ schleudert sie ihm entgegen. Was dann folgt ist eine Aneinanderreihung von Argumenten, die eigentlich keine sind. Nicole spricht von Bananen, die es nicht gab, und der Sesamstraße, die sie nicht sehen durfte. Banalitäten, die für Micha nicht zählen. Immer wieder fragt er, was man ihr eigentlich getan hat, schwärmt von alten Tagen im Kindergarten und vom Tischtennis in den Hofpausen.

Irgendwann verstummt die Diskussion, und Micha wirft einen fragenden Blick zu seinem Freund Michael. „Sag doch auch mal was!“ Der Angesprochene weiß nicht so recht, wie er reagieren soll. Eigentlich ist er nur zum gemeinsamen puzzeln gekommen, und nun soll er eine Diskussion retten, die ihn einfach nervt. „Entschuldigt, daß ich mich jetzt so ausdrücke“, sagt Michael vorsichtig, „aber solche Gespräche über die DDR kotzen mich an. Da sieht man mal, daß sich die Leute überhaupt keinen Kopf über die Vergangenheit gemacht haben.“

Michael hat gut reden, meint das junge Paar. Schließlich steht er mit seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann finanziell nicht schlecht dar. Er wohnt noch zu Hause und kann sich auch ein Auto leisten. Und er muß nicht finanziell für ein Kind aufkommen. Micha und seine Freundin sind seit einem halben Jahr nicht mehr allein. Schicksal nennen die beiden die Tatsache, daß Antibabypillen nicht hundertprozentig vor ungewollter Schwangerschaft schützen. Mit dem Kind kamen auch die finanziellen Probleme. Nicole konnte ihre Lehre als Bürokauffrau nicht beenden, die sie begonnen hatte, nachdem sie bei der Polizei mit fadenscheiniger Begründung gekündigt worden war. Micha fand nach der Wehrpflicht keine Anstellung als Koch und ist jetzt arbeitslos.

Ein neues Wort hielt jetzt Einzug: Karriere

Nicole und Micha sind heute 21 Jahre alt. Vor acht Jahren, als die Mauer fiel, waren sie 13 Jahre alt und besuchten gemeinsam die 7. Klasse der Gerhart-Hauptmann- Schule in Köpenick. Das Paar gehört mit zu den wenigen Schülern der Klasse 7a, die heute noch miteinander Kontakt haben. Am Anfang der Pubertät stehend, wurden die 26 Schüler dieser Klasse über Nacht mit einem fremden Gesellschaftssystem konfontiert. Angst vor der Zukunft machte sich breit. Arbeitslosigkeit, ein Wort, dasman vielleicht irgendwann mal gehört hatte, bekam plötzlich ein Gesicht. Eltern, die immer stark waren, wurden unsicher, verzweifelten oft an ihrer aussichtslosen Situation.

Ein neues Wort hielt Einzug in den Sprachgebrauch vieler: Karriere! Wie oft trichterten Eltern und Lehrer Jugendlichen diesen Begriff ein. Karriere! Nur dadurch böte sich eine Chance, in der Zukunft frei von existentiellen Nöten und Ängsten zu leben, hörte man sie sagen. Im gleichen Atemzug sprachen sie von Gymnasien und Universitäten. Wer damals nicht den Sprung auf das Gymnasium schaffte, glaubte oft, schon verloren zu haben. Es tut weh, Mitschüler zu sehen, die heute studieren und große Autos fahren, die als Fußballprofis im Ausland kicken oder als Musiker das Hobby zum Beruf gemacht haben und davon leben.

Nicole und Micha hält nicht mehr viel in diesem Land. Sie fühlen sich vom Staat beschissen und wollen einfach nur ganz weit weg oder dorthin, wo es keine Probleme gibt. „Australien“, überlegt Nicole und sieht ihren Freund fragend an. Dem ist das eigentlich egal. Hauptsache weg. Immer öfter schimpft er auf „die Ausländer“, die sie ständig in den Ämtern sehen. „Die sagen Bulla Bulla und kriegen sofort die dicke Knete in die Hand gedrückt, während uns erstmal sechzig Seiten zum Ausfüllen gegeben werden“, ereifert sich Micha und ist plötzlich über sich selbst erschrocken. „Ich hätte nie geglaubt, daß ich mal so denke.“ Er mag nicht mehr darüber reden. „Wozu, es hilft ja doch nichts.“ Das junge Paar sieht sich auf der Seite der Verlierer und hofft auf bessere Zeiten: irgendwann wieder Geld verdienen, heiraten, in ein zwei Jahren ein zweites Kind, damit man mit 40 seine Ruhe hat. Ein Haus im Grünen wäre auch nicht schlecht.

Das Haus im Grünen hat ihr Schulfreund Daniel bereits. Zumindest wohnt er dort – bei seinen Eltern. Das hat den Vorteil, daß er sich um Probleme wie Miete zahlen nicht zu kümmern braucht. Er kann in Ruhe seinem Betriebswirtschaftsstudium nachgehen und sich nebenbei noch seiner Band „Pleasure“ widmen, die auf dem Weg nach oben ist.

Daniel glaubt, es geschafft zu haben. Es – das ist der Sprung auf das Karrierebrett. „Ich bin schon ein Gewinner der Einheit“, gibt er freimütig zu, erwähnt aber auch, daß er sich „dem System, in dem es letztendlich nur um Geld geht“, angepaßt hat. Vielleicht hatte er auch einfach Glück, kannte zur richtigen Zeit die richtigen Leute oder konnte sich auf seine Eltern verlassen, die ihn wo es nur geht unterstützen. „Ohne meinen Vater, der ja einen recht guten Posten beim Radio hat“, sagt Daniel, „würde ich wahrscheinlich immer noch in der Garage hocken und Musik für mich selbst machen.“

Daß Erfolgreiche auch ihre Neider haben, hat auch er schon erfahren müssen. Freunde, die er schon vom Buddelkasten her kennt, verhalten sich plötzlich anders und reden hinter seinem Rücken schlecht über ihn. Über drei Ecken hat Daniel erfahren, daß er nicht mehr der alte sei und wohl vergessen habe, wo er herkommt. „Das tut verdammt weh“, weiß Daniel. Es ärgert ihn, daß die guten Freunde ihm das nicht direkt sagen können. „Wenn es jetzt schon so weit ist“, sagt der 21jährige, „muß man sich darüber mal unterhalten, auch wenn das schwierig ist.“ Mit Daniel besuchte auch Anna die Klasse 7a. Nach der achten Klasse, dem Jahr, in dem sich die Klasse auflöste, zog sie mit ihrer Mutter „in den Westen“. „Auf einmal ging ich in Steglitz zur Schule“, erinnert sie sich. Gefallen hat es Anna dort nicht besonders gut. Sie war verärgert über die Mitschüler, „die schon sprüchemäßig anders drauf waren“, als sie selbst. Das ihr so gewohnte Mieinander unter den Schülern vermißte sie: „Selbst so banale Dinge, wie Vorsagen oder Hausaufgaben abschreiben, gab es bei denen nicht. Es ging nur gegeneinander.“

Das Gefühl, nicht in die Welt hineinzupassen

Annas Interesse an der russischen Sprache zwang sie zum Wechsel an die Menzel-Oberschule in Tiergarten. „Ich war damals so naiv zu glauben, daß dort alles anders sein würde“, sagt sie heute. Schnell stellte sie fest, daß das wohl doch nur eine Illusion war. Sie spricht enttäuscht von MitschülerInnen, die sich bei LehrerInnen einschmeichelten und es dadurch so unglaublich einfach war, gute Zensuren zu bekommen. Davon, daß jeder um sie herum, krampfhaft versuchte, individuell und hip zu sein, nur im etwas zu präsentieren zu können. Anna war enttäscht von dem neuen System, das wie sie glaubt, nur aus Oberflächlichkeiten besteht.

Immer mehr entfernte sich Anna innerlich von ihrer Umwelt, überwarf sich mit ihrer Mutter, die Karriere machte und überhaupt nicht verstehen konnte, daß Anna aus diesen Gründen die Idee zu studieren verwarf. Irgendwie hatte Anna das Gefühl, „in diese Welt nicht so richtig hineinzupassen“.

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Noch heute glaubt sie, sich nicht groß verändert zu haben. Eben die Anna von damals zu sein, der menschliche Werte und Unabhängigkeit wichtiger sind als Karriere und ein gutes Gehalt. Anna hatte damals in der 7. und 8. Klasse eine Freundin. Nadja. Ein richtige Freundin, mit der man durch dick und dünn geht. Der man, ohne rot zu werden, vom ersten Mal erzählen konnte und die zuhörte, wenn man heimlich von dem süßen Jungen aus dem Nachbarhaus schwärmte und die später auch die Tränen trocknete, wenn der Liebeskummer zu weh tat. „Es war eine richtige Mädchenfreundschaft“, erinnert sich Nadja heute.

Ihre Freundschaft zu Anna hat irgendwann in den letzten Jahren einen Knacks bekommen. „Vielleicht fing alles damit an, daß Anna damals in den Westen gezogen ist“, überlegt Nadja. Diesen Schritt hat sie ihrer Freundin, mit der sie gemeinsam in eine Klasse ging, nie verziehen. „Anna wurde ein richtiger Wessi“, sagt Nadja. „Plötzlich redete sie anders, verhielt sich mir gegenüber komisch und hatte auf einmal keine Zeit mehr für mich.“ Nadja kritisiert, daß Anna immer oberflächlicher wurde, auf einmal ganz viele wichtige Leute kennen mußte und ständig zu Selbsterfahrungskursen rannte. Eine zeitlang meldete sich Anna gar nicht mehr. Nadja hatte Angst um sie, schrieb ihr Briefe, die sie nicht abschicken konnte, weil sie nicht wußte, wo Anna steckte. Ganz langsam zerbröselte die Freundschaft. Später versuchten es Anna und Nadja noch einmal. Für Nadja jedoch steht fest, „daß es nie mehr so wie früher sein wird“.

Nadja ist überzeugt, daß sie ganz die alte geblieben ist. Für sie selbst hat sich durch die Wende nicht sehr viel geändert. Sie wußte, was nach der Wende auf sie zukam. Ihre Eltern arbeiteten für die DDR im Außenhandel. So lang, wie Nadja sich erinnern kann, lebten sie im westlichen Ausland und ließen sie und ihre zwei Schwestern selten in Internaten in der DDR zurück. „Es ging uns immer gut“, berichtet Nadja über diese Zeit. „Ich hatte schon immer Westklamotten, reisen durften wir auch.“

Vorstellungen von Glück und Harmonie überwiegen

Allerdings haben sie ihre Eltern nie nach dem typisch westlichem Muster erzogen, sagt sie. „Erziehung zur Leistung und zur Karriere gab es bei uns nicht, auch wenn eine gute Schulausbildung nie in Frage stand.“ Nadjas Eltern, die keiner Partei angehörten, legten statt dessen großen Wert auf eine weltoffene Erziehung zur Selbständigkeit und Toleranz. Oberste Priorität war aber die intakte Familie. Schon allein der berufsbedingten Trennungen wegen. Rücksichtnahme und Respekt waren die Werte, die ihr ihre Eltern vermittelten und auch noch heute vorleben. „Die sind seit 23 Jahren verheiratet, wo gibt es das noch“, fragt Nadja. „Auch wenn das spießig klingt, ich will auch heiraten und Kinder und einen Mann haben, der mich liebt“, erklärt sie ihre Vorstellung von Glück und Harmonie. Vielleicht ist Nadja deshalb auch die einzige, die Verständnis für Nicole und Micha zeigt, die trotz ihrer katastrophalen Situation glücklich sind und demnächst heiraten wollen, sobald es der Geldbeutel zuläßt. Die es versteht, daß die beiden trotz finanzieller Nöte mit ihrem Sohn glücklich sind: „Die haben einfach erfahren, daß es auch wichtigere Dinge, als Geld gibt.“

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