: Formschön extrovertiert
Hamburger Premieren: In „Camping 2000“ läßt Jossi Wieler das Bilaterale stocken, in „Clockwork Orange“ werden die Grenzen von Karin Beier elegant verwischt ■ Petra Kohse
Unter den deutschen Subventionstheatern ist das Hamburger Schauspielhaus der Musterfall. Weißgetüncht und stolz beflaggt ankert es vor dem Hauptbahnhof, bietet den einen Zuflucht vorm Leben und läßt sich von den anderen nichts vorwerfen. Wer durch die blitzenden Eingangstüren aus Chrom und Glas strebt, wird um Kleiderspenden für Obdachlose gebeten, während sich das ausliegende Spielzeitinfo großformatig und hip layoutet als Ticket zur Popkultur empfiehlt. Auch der Anteil von regieführenden Frauen sowie neuer Dramatik ist korrekt, die Vorstellungen dauern im Schnitt zwei Stunden, und der Spielplan ist problembewußt.
Was Christoph Schlingensiefs Echtzeit-Aktion „Bahnhofsmission“ (deren Nachhall die Kleidersammlung ist) wohl am spektakulärsten demonstriert. Doch selbst eine Operette wie „Die Fledermaus“ wird in der Regie von Frank Castorf als Kommentar zur Spaßgesellschaft angekündigt, und nach Bret Easton Ellis' Konsumsuchtgemetzel „American Psycho“ Mitte September hatte am vergangenen Freitag „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess Premiere: das Stück zum Buch vor dem Stanley- Kubrick-Film über Jugend- contra Staatsgewalt.
Problembewußtes Campen für Europa
Wobei das Konzept jeweils das eine, die ästhetische Umsetzung oft das andere ist, und so machte Karin Beier „Clockwork Orange“ in vergleichbarem Maße zur Sahneschnitte wie Thirza Bruncken „American Psycho“ seinerzeit zu Trockenfutter. Aber davon erst später mehr. Denn einen Tag vor „Clockwork Orange“ war im Malersaal des Schauspielhauses noch eine andere Premiere anberaumt: „Camping 2000. Ein deutsch-französisches Projekt“, dessen Straßburger Uraufführung vor vier Wochen live auf arte übertragen wurde. Es geht um scheiternde Versuche a) zu kommunizieren, b) zu handeln, und zwar grenzübergreifend im Herzen Europas, Europa vor Augen – anerkannte Problemfelder auch das.
Problematisch sind offenbar schon die Proben verlaufen, wie ein tagebuchartiger Bericht des Fernsehregisseurs Andreas Morell verrät, der im Spielzeit-Magazin abgedruckt ist („Die halbe Nacht lang sitzt das Team noch zusammen – erneute Diskussion über die Grundlagen der Geschichte“). Der Regisseur Jossi Wieler sowie die Dramaturgen Géraud Didier und Tilman Raabke hatten keinen fertigen Text, sondern setzten auf die Kraft der Improvisationen, die sich dann aber als eine sehr flüchtige erwies.
Die Ausgangssituation des Endprodukts allerdings ist bezaubernd. Ausweglos und poetisch, wie es in einem Raum von Anna Viebrock eben zugeht. Ein Flughafen. Irgendwo und irgendwann, auf jeden Fall lange nachdem die Maschine nach Daressalaam, auf die die verrottende Anzeige noch hinweist, tatsächlich gestartet sein mag. Neonlicht flackert. Rechts eine Sitzbank, dahinter eine Schleusentür. Links ein Abfertigungsschalter, dahinter eine Bar. An der Rückwand das Transportband für die Koffer, das manchmal läuft, dann wieder steht.
Hierher also kommen die Leute, um zu campen. Einige sind schon da, andere stoßen hinzu, mit Koffern in der Hand und Fotoapparaten um den Hals, voller Hoffnung noch auf Abreise, während die Erstankömmlinge schon Topfpflanzen züchten. Die Auftritte sind gelungen. Wie am Anfang aus jeder Nische einer kriecht, über das Förderband hereintapst oder erst einige Male vorbeisegelt, bevor er absteigt. Wie ein Paar im Steward/ess-Dress hereinschnürt und raubtiergleich durch den Raum schnappt. Die Deutschen sprechen deutsch, die Franzosen französisch. Mann-Frau-Beziehungen deuten sich an und verwischen wieder, Gruppendynamik desgleichen.
Man tut langwierig Dinge, die scheitern
Die Inszenierung setzt auf Skurrilität und Klischees: der Franzose trinkt Rotwein am Morgen, der Deutsche rezitiert Rilke. Charmant allerdings der täppisch Polaroids schießende André Jung und Marlen Diekhoff als seine Schwester, die es in spätjüngferlicher Glücksuche „nach Asien“ zieht. Alle wollen weg und tun langwierig Dinge, die scheitern. Dann wieder sagt einer „Europa“, und alle ekeln sich, auch Techno wummert, und das Akkordeon wird bedient. Am Ende öffnet sich plötzlich die Schleuse, das Steward/essen-Paar entschwindet, die anderen bleiben zurück.
Das alles ist schnell absehbar, und so kommt „Camping 2000“ bestenfalls bis „Camping 200“ – man spürt, wie Jossi Wieler & friends ein szenisches Poem im Sinn hatten, eine Komposition, aus dem Herzen bilateralen Schauspielertums geboren, indes: es trägt nur ein paar Takte. Ein Himmelreich für einen Gedanken, einen bildnerischen Zugriff, einen Text und eine Regie – es reicht nicht, daß jeder etwas gepusselt hat.
Das Uhrwerk schnurrt, aber nicht in Orange
Es reicht aber auch nicht, wie sich am nächsten Abend zeigt, daß alles bestens funktioniert. Oder doch? Schwieriger Fall: Karin Beiers Inszenierung von „Clockwork Orange“ ist voller Können und Eleganz, voller Einfälle und Rhythmus – warum, zum Teufel, ist sie nicht interessant? Dabei wäre eine Kontroverse angelegt, denn schon im Spielzeit-Magazin diskutiert der Dramaturg Lars-Ole Walburg mit dem Darsteller des Alex, Andreas Grothgar, über den Kubrick-Film. Wobei es auf Walburg „angeschafft und lächerlich“ wirkt, „wenn sich jemand im Jahr 1997 über staatliche Manipulation aufregt“, während Grothgar den Staat nicht als Gummizelle, sondern punktuell durchaus noch als Kampfpartner versteht.
„Clockwork Orange“, ein Roman (1962) und ein Stück von Anthony Burgess: Alex und seine „Droogs“ üben Terror aus. Sie prügeln einen Obdachlosen, brechen in das Haus eines Schriftstellers ein und vergewaltigen seine Frau. Sie haben eine dada-Kinder- Spezialsprache, hören „Ludwig van“ (Beethoven) und sind wahnsinnig cool. Wobei Alex cooler ist als die anderen. Seine Eltern hörensehensagen nix und tätscheln ihn, seine Kumpels unterwirft er brutal. Weswegen sie ihn auflaufen lassen, sobald es sich ergibt. Erst kommt er in den Knast, dann wird er einer Gehirnwäsche unterzogen. Mit dem Gewaltpotential bricht der ganze Mensch, am Ende gibt es nur noch Kühlschrank und Fernseher.
Hard stuff, bei Beier historisiert, aktualisiert, ironisiert und gemildert, sie stellt das Ganze in perspektivisch kleiner werdende Rahmen, um die Bühne von Thomas Dreißigacker gleich mit zu beschreiben: Schwarze Rahmen vor weißem Grund, ganz hinten vor einem roten, gerafften Vorhang ein Streichquartett. Eine dünne Plastikwand trennt das Geschehen vom Zuschauerraum: ein Labor für schockgefrostete Gewalt.
Alex und die Droogs sitzen auf Metallblöcken, auf denen später – Les Tambours d'Hamburg – auch getrommelt wird, um auf Techno- Drums überzuleiten, die das Ganze ranrücken, während die fürstlich-barocke Dekadenz der Kleidung und Perückenpracht zu Streichereinsätzen Distanz schaffen will. Szenenwechsel kommen auf dem Förderband vorbei: der Familientisch mit Gundi Ellert als gelbgewandeter Muttergemse und Jörg Schröder als brummigem Papabär, der sein Plüschpendant prompt auf dem Arm hält, die Schriftstellerwohnung, eine Frau mit einem Heer zappelnder Stoffkatzen. Gemetzel wird in Zeitlupe inszeniert, formschön extrovertiert wie ein Rockkonzert, Blut klatscht publikumsfreundlich von innen an die Scheibe.
Die Sache steht soweit, als Andreas Grothgar das nötige überschnappende Charisma hat, als die psychosoziale Gehirnwäsche zu einem – natürlich vorher im Fernsehen diskutierten – chirurgischen Eingriff modernisiert wurde und kein Hauch von Realismus die Bühne betritt. Beier ist eine geschickte Regisseurin. Wenn es auf der Bühne Dreck gibt, weiß sie genau, wie sie ihn wieder herunterinszeniert, wenn einer auftritt, tritt er in aller Eleganz wieder ab.
Auch benutzt sie recht witzig die Rewind-Taste auf der Bühne. Als Alex antiagressionsprogrammiert wieder zu seinen Eltern kommt, sind die gerade dabei, einen Untermieter statt seiner zu tätscheln. Erst kommt es zur Schlägerei, dann geht es – schwuppdiwupp – zurück in die Ausgangsposition und regelt sich verbal. Schließlich kann Alex nicht mehr prügeln – wobei er hier ansonsten ganz der Alte ist, was dem Stoff sein größtes Spannungspotential nimmt. Nur wenn's ans Zuschlagen geht, kriegt er Migräne und windet sich ein bißchen: Alex – nicht gebrochen, sondern geknickt. Ganz am Ende kommt er – Publikumskontakt! – vor die Plastikwand und sagt, daß es besser wäre, to burn out als to fade away. Gefesselt, aber ungebrochenen Sinnes müßte er sich jetzt umbringen. Wer aber würde dem Ex-Vergewaltiger und Katzenmuttermörder das Rock-Idol glauben? Applaus und ein halbes Buh oder zwei für die Regie.
Mit Rammstein ins trendige Irgendwie
Beier hat auf Effekt inszeniert. Auf Glätte, Tempo und Eitelkeit. Aus ästhetischen Gründen interessiert sie sich für Alex, aus ästhetischen Gründen nicht für den Staat – als beide zusammenprallen, läßt sie die Sache fahren: wer wie stark ist und wen bricht, ist ihr egal. Nur Burghart Klaußner als linksintellektueller Schriftsteller versucht noch, Interesse zu wecken, wenn er, wohl wissend, wer Alex ist, ihn als Staatsopfer und Märtyrer funktionalisieren will. Das Private muß dem Politischen weichen – eine kurze Szene lang funkt diese Figur ein Drama, Alex' Vitalität aber saugt den Funken auf.
Diese Inszenierung unterhält, ohne daß man etwas erlebt, es gibt Fragezeichen, aber kein Rätsel, im Programmheft werden Tocotronic, Rammstein und Nirvana zitiert, und auch sonst dockt alles an ein trendiges Irgendwie an, ohne daß man wüßte warum. „Weil nichts mehr Sinn hat, muß alles perfekt funktionieren“, wird auf Seite 33 auch Baudrillard zitiert. Na, wenn's nur das ist – musterhaft Beier: eins, setzen.
„Camping 2000“. Regie: Jossi Wieler. Bühne: Anna Viebrock. Malersaal. „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess. Regie: Karin Beier. Bühne: Thomas Dreißigacker. Großes Haus. Deutsches Schauspielhaus Hamburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen