: Was das Volk als gesund empfand
Christiane Kohls bewegende Rekonstruktion eines Sondergerichtsverfahrens wegen „Rassenschande“ im tiefbraunen Nürnberg. Minuziös genau erzählt die Autorin eine eigentlich durchschnittliche deutsche Kleinbürgergeschichte mit mörderischem Ausgang ■ Von Johannes Schmitt
Thema dieses Beitrags zur Aufarbeitung der Nazivergangenheit ist die Verfolgung Leo Katzenbergers. Der erfolgreiche jüdische Kaufmann und Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg wird als „Rassenschänder“ hingerichtet, seine angebliche Geliebte wegen Meineids zu einer Zuchthausstrafe verurteilt.
Im Zentrum stehen Menschenschicksale
Das Buch erzählt von den in der Naziführung schwelenden Intrigen und Machtkämpfen vor dem Hintergrund der gnadenlosen Strategie des Holocaust. Man erfährt vom Schicksal der israelitischen Kultusgemeinde, etwa der Ausgrenzung jüdischer Mitbürger, wie auch von der stetigen Radikalisierung der Bevölkerung. So erscheint dieser Fall nicht als kühler Justizvorgang, sondern als Geschichte handelnder Personen, ihren Hoffnungen, Ängsten, Trieben und Instinkten sowie ihrem Mut und ihrem Versagen. Es könnte ein gut geschriebener Roman vor dem Hintergrund historischer Ereignisse sein, der seine Leser fesselt und in atemloser Spannung hält. Doch es ist mehr: Die handelnden Figuren dieser Zeit sind echt. Nichts ist fiktional. Alles ist recherchiert, jedes Kapitel mit Quellenangaben belegt. Diese Darstellung entstand auf der Grundlage überaus umfangreicher Ermittlungen. Die Autorin kann selbst Kleinigkeiten, etwa auch die Stimmungen ihrer Figuren, belegen, die sie in die großen Ereignisse der Zeit integriert. Ihr Anliegen ist nicht nur die Nacherzählung eines Justizmordes, es ist die Wiederherstellung des Ansehens eines Mannes, der in seiner Eigenschaft als Würdenträger der jüdischen Gemeinde in einem Schauprozeß bloßgestellt werden sollte.
Christiane Kohl ist parteilich. Der Stil ihrer Darstellung ist wertend. Dabei sind es nicht die Ereignisse, sondern die Menschen, die von der Autorin auf die Waagschale gelegt werden. Es interessieren die Lebensumstände der einzelnen, ihre Ziele, Wünsche und Taten, die oft im Gegensatz zu ihren Aussagen stehen. Es gelingt damit eine zeitgeschichtliche Studie besonderer Art, die sich nicht in der Erzählung „objektiver“ Ereignisse erschöpft, sondern ein Soziogramm im Zusammenwirken verschiedener subjektiver Interessen entwirft, die so wenig mit der Repräsentationsfassade „unschuldiger“ Nachkriegsdemokraten zu tun hat.
Es sind nicht nur SA-Funktionäre, Richter und Staatsanwälte, die in dieser Tragödie eine Rolle spielen, es sind durchschnittliche Kleinbürger, deren Hinterhofmoral und Treppenhausgetratsche den „Fall Katzenberger“ ins Rollen bringen. So sind es Neid und Mißgunst, schließlich aber auch das Streben nach Vorteilen und die Anbiederung an die „großdeutschen“ Machthaber, die den Nachbarn, den Mieter, den Angestellten zum Ungeheuer aufbauen. Die Autorin kann aus den Vernehmungsprotokollen zitieren und spürt so dem Denunziantentum und damit einer besonderen Form feiger Täterschaft jenseits der jeweiligen Parteizugehörigkeit nach. Ebenso kann sie, um falsche Rechtfertigungen im Keim zu ersticken, belegen, daß denjenigen, die sich diesem Verfahren verweigerten, nichts geschah.
War der Angeklagte mehr als nur ein väterlicher Freund zu Irene Seiler? Diese Frage beschäftigt nicht nur den NS-Sondergerichtshof, sondern auch die Kriegsverbrecherprozesse der Alliierten sowie diverse Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik. Die in der Unmenschlichkeit des Naziregimes mit dem Vorwurf der „Rassenschande“ aufgebauten Spielregeln einer eigenartigen Chauvinistenmoral bestimmen damit die Arbeit der nachfolgenden Gerichte. Aber welcher Sinn steckt angesichts der offensichtlichen Unschuld des Nürnberger Kaufmanns in dieser Anklage und welcher Sinn vor dem Hintergrund der massenhaften Deportation der Juden in Vernichtungslager in seiner Verurteilung? Christiane Kohl entlarvt das Justizschauspiel der Nazis als Vorwand für persönliche Karrieresüchte, aber auch als Forum der Volksverhetzung.
Opfer haben keine Rechtfertigungschance, da ihr Standpunkt gelöscht ist. Wenngleich viel geschrieben wird über das sogenannte Dritte Reich, behält diese Einsicht Lyotards schon allein deswegen ihre bohrende Aktualität, da sich das Schicksal der Opfer in der abstrakten Form von Zahlenkolonnen der menschlichen Vorstellungskraft entzieht. Auch ist die oftmals benutzte Ikone des grausam agierenden Nationalsozialisten, der uniformiert und in militärischem Gehabe seine Greueltaten vollbringt, wohl eher ein Alibi, die Täter und ihre Schuld bei „den anderen“ zu vermuten und um schließlich zu den Opfern und ihrem Schicksal Distanz aufbauen zu können. Die Autorin gibt dagegen den Menschen, den Tätern wie den Opfern, ihr Gesicht zurück und damit dem Widerstreit die jeweiligen Standpunkte: Im Grunde kommt in diesem Prozeß nicht das vermeintliche Sittendelikt zur Verhandlung. Das eigentliche Thema dieses Falles ist die Infragestellung der Menschlichkeit. Zu lesen ist ein Zitat aus der Verteidigungsrede des Kaufmanns, in dem er nicht nur seine Unschuld beteuert, sondern auch und ganz besonders als Jude seine Eigenschaft, Mensch zu sein, beschwört. Es mag angesichts der Geschichte der Judenpogrome nachdenklich stimmen, daß gegen Ende des 16. Jahrhunderts William Shakespeare seinem Shylock ähnliche Worte in den Mund legt oder noch viel früher anläßlich der Hinrichtung eines Juden der Ausspruch „ecce homo“ überliefert ist.
Die Würde war unzerstörbar
Es geht nicht nur um die Unbeweisbarkeit und Unhaltbarkeit der unsinnigen Vorwürfe gegen Leo Katzenberger. Es geht um seine Menschlichkeit. Darin liegt das eigentliche Anliegen seiner Rehabilitierung und damit das Anliegen dieses Buchs. Es entsteht das Bild eines Menschen von hohem ethischem Anspruch. Sein Verhängnis war die Umgebung von Leuten niederer Gesinnung. Wenngleich man ihm alles nahm, ihm angesichts des Todes jede religiöse Vorbereitung genauso verweigerte wie auch ein Begräbnis, konnte man ihn seiner Würde nicht berauben. Die Autorin hat ihr Buch dem Andenken Leo Katzenbergers gewidmet.
Christiane Kohl: „Der Jude und das Mädchen. Eine verbotene Freunschaft in Nazi-Deutschland“. Spiegel Buchverlag 1997, 383 Seiten, 44 DM
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