: Die unverschämte Perfektion eines Genies
Tennisprofi Pete Sampras schmettert in einem unspektakulären ATP-WM-Finale Jewgeni Kafelnikow mit 6:3, 6:2, 6:2 ab. Für den Vizeweltmeister geht dann doch noch ein verkorkstes Jahr glücklich zu Ende ■ Aus Hannover Matti Lieske
„Das war ein seltsames Jahr“, zog Pete Sampras bei der ATP-WM in Hannover die Bilanz der Saison 1997. Damit meinte er natürlich nicht, daß er gestern in einem Finale, welches so undramatisch war wie das gesamte Turnier, gegen Jewgeni Kafelnikow mit 6:3, 6:2, 6:2 seinen vierten Masters-Titel gewann. Seltsam erschien ihm vielmehr, daß beim Treffen der acht besten Tennisspieler anstelle etablierter Figuren wie Andre Agassi, Boris Becker oder Goran Ivanisevic Leute auftauchten, die zu Saisonbeginn meist noch in den hinteren Regionen der Top hundred herumkrebsten: Jonas Björkman, Carlos Moya, Greg Rusedski, Patrick Rafter.
Außer dem 21jährigen Moya waren das keineswegs grüne Newcomer, die nach oben schossen wie einst Agassi, McEnroe oder Becker, sondern gestandene Veteranen der Tour im Alter von 24 oder 25 Jahren, denen unverhofft der späte Durchbruch gelang. „Ich habe keine Ahnung, woran es liegt“, sagt der Schwede Björkman, von Platz 65 auf Rang 4 geklettert, „irgendwie paßte plötzlich alles zusammen.“
Sampras bescheinigt dem Ensemble der Parvenüs, dem noch der Chilene Rios und der Brasilianer Kuerten zuzurechnen sind, daß es gutes Tennis spielt, erlaubt sich jedoch auch ein wenig Skepsis: „Ein gutes Jahr zu haben ist eine großartige Sache. Aber seine Punkte zu verteidigen und die Sache zu wiederholen ist viel schwieriger.“ Der US-Amerikaner weiß, wovon der spricht, er beendet zum fünften Mal das Jahr als Nummer eins. „Eine Menge Kerle werden nicht nur hinter mir her sein, sondern auch hinter Jonas, Greg und all den Jungs“, prophezeit der 26jährige.
In Hannover übernahm es Sampras nach seiner Auftaktniederlage gegen Moya höchstpersönlich, den Emporkömmlingen zu zeigen, wer nach wie vor der Meister ist. Erst servierte er Rusedski ab, dann Rafter, schließlich im Halbfinale Björkman, und Moya kann froh sein, daß er in der Vorschlußrunde ausschied. „Wenn man gegen jemanden verliert, merkt man sich das“, sagte Sampras. Den Spanier hätte er im Endspiel wohl noch gnadenloser in Grund und Boden gespielt, als er dies mit Kafelnikow tat.
Den Russen hatte man zu Jahresbeginn durchaus bei der ATP-WM erwartet, doch die Qualifikation schaffte er erst im allerletzten Augenblick. Der 23jährige war 1997 eigentlich angetreten, den Angriff auf die Spitze der Weltrangliste zu wagen, doch dann warf ihn während der Vorbereitung zu den Australian Open im Januar eine skurrile Verletzung weit zurück. Dort ließ er sich ausgerechnet durch den erwiesenen Unglücksraben Marc Rosset aus der Schweiz dazu verleiten, spaßeshalber auf einen Sandsack, wie ihn die Boxer benutzen, einzuschlagen. Resultat: ein komplizierter Bruch des kleinen Fingers der rechten Hand, zwei Operationen, drei Monate Pause.
Nur langsam fand Kafelnikow Anschluß, und noch nach dem Turnier in Stuttgart Ende Oktober wollte er den Krempel für dieses Jahr hinschmeißen, weil er „völlig fertig“ war. Er machte jedoch weiter und qualifizierte sich mit dem Sieg in Moskau noch für die WM, so unverhofft, daß er nicht mal im Pressehandbuch der Veranstaltung auftauchte. In Hannover schwebte Kafelnikow dann praktisch auf einer Wolke bis ins Endspiel. „Habt ihr gesehen, wie ich auf dem Platz gelacht habe“, fragte er nach seinem Vorrundensieg gegen Michael Chang, bei dem er das beste Tennis spielte, „das ich je von mir gesehen habe“.
Bei seinem Erfolg gegen Björkman im ersten Spiel sei „das Verhältnis von Genie zum Wahnsinn“ etwa 60:40 gewesen, im Chang-Match 99:1. „Solch ein Sieg ist wie ein dicker Fisch an der Angel“. Im Halbfinale gegen Moya neigte die Quote wieder mehr zum Wahnsinn, und erst recht im Finale, was jedoch daran lag, daß das Verhältnis von Genie und Wahnsinn bei Sampras glatte 100:0 betrug. Im zweiten Satz hatte Kafelnikow angesichts der fast unverschämten Perfektion seines Kontrahenten schon keine Lust mehr, und zum Lachen war ihm diesmal durchaus nicht zumute.
Möglicherweise hatte ihn ja auch das Scheitern der russischen Fußballmannschaft bei der WM- Qualifikation gegen Italien zu sehr mitgenommen, schließlich hatte er schon am Samstag gesagt, daß er deren Spiel nervöser entgegensehe als seinem eigenen Finale.
„Ich will die Nummer eins werden“, ist das erklärte Ziel von Kafelnikow, der wie Sampras über ein nahezu komplettes Spiel verfügt. Wie viel noch fehlt, demonstrierte ihm Sampras gestern in Hannover. Ein realistischeres Projekt ist es, jenen dritten Rang zurückzuerobern, den er vor seinem Mißgeschick innehatte. Die Chancen stehen gut, da er ja die ersten drei Monate der letzten Saison nicht gespielt hat. „Ich habe keine Punkte zu verteidigen, und ich fühle, daß ich wiederkomme. Im nächsten Jahr spiele ich möglicherweise unglaublich“, kündigt er an.
Grund zur Sorge geben lediglich seine unmittelbaren Zukunftspläne. „Ich beginne am 10. Dezember mit der Vorbereitung auf die Australian Open“, verrät Kafelnikow, „bis dahin werde ich in der Schweiz ein wenig Ski fahren.“ Hoffentlich nicht mit Marc Rosset.
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