Der vergessene Held

■ Chinas Staatschef Jiang Zemin läßt seinen stursten Widersacher frei

So ist das, wenn die Mächtigen alle Karten in der Hand halten: Sie können auch dann noch glänzen, wenn ihre größten Schweinereien ans Licht kommen. Kein Zweifel, Wei Jingsheng, der für seine Überzeugung 18 Jahre im chinesischen Gulag schmachten mußte, hat den Sündenfall Pekings wie kein anderer verkörpert. Seine Freilassung führt uns einen Helden vor, wie es sie auf der ganzen Welt nur selten gibt und wie die Herrschenden sie überall hassen. In persönlichen Dingen bescheiden und nachsichtig, doch standfest und hartnäckig, wann immer es um die Sache des Volkes und seiner unterdrückten Schichten geht. Weis Botschaft ist einfach: „Ohne den Rückhalt einer starken Basisbewegung ist die Versuchung zur Diktatur unwiderstehlich.“ Das schrieb er 1983 an seinen großen Widersacher Deng Xiaoping.

Doch Weis Botschaft hat heute weniger Gewicht denn je. Das liegt nicht am fehlenden Durchhaltevermögen des „Vaters der chinesischen Demokratiebewegung“. Auch fehlt es nicht an objektiven Argumenten für die Demokratie in China. Es liegt am derzeitigen Erfolg der diktatorischen Politik Pekings. Die roten Mandarine haben Weis Freilassung mit einer diplomatischen Offensive gekoppelt, wie sie in der chinesischen Geschichte ihresgleichen sucht. Im Dezember wird China erstmals mit seinen Nachbarländern ohne Beisein westlicher Politiker multilaterale Sicherheitsgespräche auf höchster Machtebene führen. Das kommt nach den mit den USA und Rußland vereinbarten „strategischen Partnerschaften“. Kurz, das häßliche Bild von der arroganten, aufstrebenden Weltmacht China wird von der Pekinger Politik an allen Fronten konterkariert. Die neue Regentschaft Jiang Zemins nach dem 15. Parteitag beginnt im Zeichen von Entspannung und Dialogbereitschaft. Wer ist da nicht versucht, die Freilassung eines Dissidenten, der auf die häßlichsten Seiten eines Unrechtsregimes verweist, als Anekdote im großen Lauf der Weltpolitik abzutun?

Weis Zukunft ist ungewiß. Zumal der Märtyrer jetzt keiner mehr ist und der Friedensnobelpreis, für den er zweimal vorgeschlagen wurde, wohl nicht an einen Querdenker vergeben wird, der im Exil Däumchen dreht. Wei war nie ein chinesischer Mandela, ihm fehlte die Solidaritätsbewegung im eigenen Land. Das Schlimmste aber wäre, wenn Wei im Exil genauso vergessen bleibt, wie er es heute in China schon ist. Georg Blume