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Seltsame Straßen im Herbst

■ Hundert Zeilen Kuhlbrodt: Lang steht man in Neukölln auf der Brücke und schaut sich den großen Himmel an. Nebenan verrostet ein Damenrad , dunkle Wolkenungetüme nehmen Kurs auf die Stadt

Neukölln ist schön im Herbst. Wenn auch etwas spröde. Bei Waffen Wodarz deckt sich die hiesige Bevölkerung ein, um den Bezirk gegen Journalisten zu verteidigen. Seit dem aufdeckerischen Spiegel- Artikel kommen die in Massen auf der Suche nach bewaffneten Haufen und Kindern, die mit großen Augen im Rinnstein verhungern. Anders als das Café Perfect hat das Lokal Einbahnstraße durchgehend geöffnet. Anheimelnd und irgendwie nostalgisch wirkt die Sexothek in der Karl-Marx-Straße. „Voll daneben ist“ dagegen, „wenn dieser Altpapier-Iglu voll ist und Papier daneben liegt“, steht auf einem Altpapier-Iglu.

Die bezirksübergreifende Ringbahnstraße liegt etwas abseits des Geschehens am Rande der S-Bahn. Seltsame Straße im Herbst. Erst ein afrikanischer Friseur, dann die Biker-Kneipe Schock. Ein brüllender Wikinger mit erhobener Streitaxt schaut grimmig als Hausgott über der Eingangstür auf die Gäste. „Hier kostet das Memminger Zunftherrenpils 2.50,–“ steht auf einem schon etwas ausgeblichenen Plakat. Diverse Schnapsflaschen kosten 50,–. Alkoholiker sind so ähnlich wie Nikotinsüchtige; haben nie genug Stoff und müssen nachts oft rausrennen, um sich Nachschub zu holen. Den trinken sie meist zu Hause ganz allein.

Auf der dem Gleisgelände zugewandten Seite der Ringbahnstraße liegen die üblichen weggeworfenen Sachen: eine braune NVA- Trainingshose mit Streifen in Gold und Rot, die ein bißchen riecht; aneinandergekettete Einkaufswagen, Bierdosen, alte Zeitungen usw.

An einem Baum steht ein unabgeschlossenes, leicht lädiertes Damenfahrrad mit Dreigangkettenschaltung, das möglicherweise in einen Verkehrsunfall verwickelt war. Auf dem Boden liegen verdreckte Nachrichten aus den fünfziger Jahren, die auf noch ältere Geschehnisse Bezug nehmen: „In den Folgen des Unfalles vom 2.8. 1927 ist eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten“, heißt es in einem Schreiben der „Bau- Berufsgenossenschaft Hannover, das dem „Verletzten bis auf weiteres eine 25%ige Unfallrente gewährt.“ – „Der Berechnung der Unfallrente lag früher ein Jahresarbeitsverdienst von 1152,– DM zugrunde.“

Ein anderer Bescheid lehnt einen Entschädigungsanspruch des Bauarbeiters Otto Bluhms ab, der am „23. bzw. 28.10. 1950 bzw. 1951 einen Arbeitsunfall erlitten haben“ will. „Beim Besteigen einer Leiter mit einer Hucke voll Kalk soll eine Leitersprosse gebrochen sein. Er sei durch die Leiter gerutscht und habe sich durch die eine Hälfte der zerbrochenen Sprosse eine Leibverletzung zugezogen. Zeugen, die den Unfall bestätigen könnten, sind nicht vorhanden.“

Ein anderes Schreiben bezieht sich „auf das Schreiben des A. vom 20.1. 58, mit dem derselbe die Lieferung eines neuen Kunstauges beantragt“, und erwähnt, daß A. „mit der bisherigen Lieferfirma nicht zufrieden“ sei. Wahrscheinlich ist „Herr Alfred Alex, geb. 30.11.00“ neulich gerade gestorben. Lang steht man auf der Brücke über den Gleisen und schaut sich den großen Himmel an. Dunkle Wolkenungetüme in der Abenddämmerung nehmen Kurs auf Neukölln.

Im ALDI-Markt Ringbahnstraße Ecke Karl-Marx-Straße gibt es Feldschlößchen-Pils, Albrecht- Gold-Kaffee, 10 Eier aus der Massenhühnerhaltung für 1,39 und acht Tafeläpfel für 1,99. „Ach, ist alles nichts“, murmelt ein bärtiger Kunde. Die bemerkenswert schöne Kassiererin lächelt irgendwie schnippisch. Detlef Kuhlbrodt

wird fortgesetzt

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