: Studierende machen Politik, Politiker studieren Prosteste
■ 40.000 demonstrieren in Bonn für freie Hochschulbildung. Sozialdemokraten, Grüne, Gewerkschafter und selbst Exbildungsminister Möllemann gehen mit
Bonn/Berlin (taz) – In Bonn fand gestern die größte Studentendemonstration seit 20 Jahren statt. Rund 40.000 StudentInnen aus der ganzen Bundesrepublik protestierten gegen die Finanznot an den deutschen Universitäten. Sie forderten, die akademischen Lehranstalten zu reformieren. „Wir verlieren ein Semester, aber wir können so viel gewinnen“, rief als Eröffnungsrednerin Shabnam Makkinejad. Die Pädagogikstudentin gehört zu den Erstsemestern, die an der Uni Gießen wegen Platzmangels aus einem Pflichtseminar geworfen werden sollen. Auch in Kiel demonstrierten 5.000 StudentInnen.
Den Demonstrierenden in Bonn schlossen sich Bundestagsabgeordnete von SPD und Bündnis 90/Die Grünen an und der ehemalige Bildungsminister Jürgen Möllemann (FDP). Er forderte den jetzigen Amtsinhaber Jürgen Rüttgers (CDU) zum Rücktritt auf. Der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel verlangte, die Chancengleichheit in der Bildung durch eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung wiederherzustellen.
Das marode Hochschulwesen wird seit Jahren kritisiert. Es gilt als mit mehreren Milliarden Mark unterfinanziert. Die Studierenden, die mittlerweile an 66 von 230 Hochschulen den Lehrbetrieb ganz oder teilweise boykottieren, wollen ein bundesweites Verbot von Studiengebühren durchsetzen. Die Proteste wurden in den letzten Tagen einhellig von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft begrüßt.
Mit Zügen und gemieteten Bussen waren die Studierenden an den Rhein gereist. Auf der Autobahn A 3 verursachte ein Buskonvoi einen 20 Kilometer langen Stau. „Wer an Bildung spart, verkauft die Demokratie“, war auf Transparenten aus Marburg zu lesen. Oldenburger Studenten forderten – in Anspielung auf die von Bildungsminister Rüttgers angemahnte Wirtschaftsorientierung der Universitäten – „Forschung für die ganze Gesellschaft und nicht nur für die Wirtschaft“.
Gegenüber der taz verlangte die niedersächsische Wissenschaftsministerin Helga Schuchardt eine schnelle Reform der Ausbildungsförderung. Gelinge diese nicht beim Treffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Kohl am 18. Dezember, „dann ist das Bafög am Ende“. Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) kritisierte im Gespräch mit der taz die Bundesregierung wegen fehlender Zahlungen für den Hochschulbau. „Bayern hat beim Hochschulbau eine Milliarde Mark für Bonn vorfinanziert“, wies Zehetmair den Vorwurf von Bundeskanzler Kohl zurück, die Länder seien Schuld an der Universitätsmisere. Zehetmair weiter: „Studiengebühren lehne ich ab.“ Im Streit um die Bafög-Reform unterstützt der bayerische Kultusminister das von der SPD favorisierten Drei-Körbe-Modell. Über das Modell, das eine finanzielle Grundsicherung für jeden Studenten vorsieht, bestünde unter den Ländern „Konsens“. Nur der Widerstand der Bonner Regierung mache eine Realisierung des Modells fraglich.
Am renommierten Londoner Orientalistik-Institut SOAS halten Demonstranten seit Tagen die Bibliothek besetzt. Dort hängen Grußbotschaften unter anderem aus Marburg, Essen, Darmstadt, Koblenz und Gießen aus. Im Londoner Hyde Park hatten am Mittwoch etwa 4.000 Studenten gegen die geplante Einführung von Studiengebühren durch die Blair-Regierung protestiert. cif/noel/mat/pat/ah
Ab morgen: taz-Hörsaal. Die taz dokumentiert die Stimmen der StudentInnen zum Streik. Beiträge an cif@taz.de
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