AKW-Tanz um das Erdbeben

Entscheidung zu Kraftwerk Mülheim-Kärlich in letzter Instanz  ■ Aus Berlin Annette Jensen

Vor den Bundesverwaltungsrichtern in Berlin stapelten sich gestern Aktenberge: Schon zum drittenmal müssen sie sich mit dem Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich befassen. Jetzt geht es um die Revision von RWE gegen ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom November 1995. Damals wurde die zweite Genehmigung für den ersten Bauabschnitt des 1.300-Megawatt-Meilers aufgehoben: Der zuständigen Behörde waren bei der Beurteilung der Erdbebengefahr zahlreiche Fehler unterlaufen. RWE will nicht nur eine Aufhebung dieses Urteils erreichen. Der Konzern hat auch einen Eilantrag gestellt, daß das AKW sofort wieder ans Netz gehen kann. Mit dem Urteil wird in den nächsten Wochen gerechnet.

„Es geht um die Vermeidung eines Totalschadens, der die Volkswirtschaft Milliarden kosten würde“, versuchte der Rechtsanwalt von RWE gleich zu Beginn seiner Stellungnahme das Standort-Argument ins Spiel zu bringen. Das OVG hätte Untersuchungen verlangt, die für die Genehmigung nicht relevant seien und deshalb auch nicht zu einer anderen Entscheidung der Behörde hätten führen können. Wenn Verfahren zur „detektivischen Fehlersuche verkommen“, sähe es schlecht aus für die Investitionsbereitschaft in diesem Land. „Die Risikoabschätzung ist und bleibt Sache der Behörden“, so das Plädoyer des RWE-Rechtsvertreters.

Wolfgang Baumann, der fünf Privatkläger gegen das AKW vertritt, versuchte nachzuweisen, daß die Behörden kritische Gutachten ignoriert hätten. Für eine angemessene Sicherheitsvorsorge hätte das AKW so gebaut werden müssen, daß es Erdbeben mit einer Magnitude von 8,5 auf der Richterskala aushalten könnte. Der Genehmigungsbehörde aber sei ein Wert von 8 ausreichend erschienen. Es gäbe also sehr wohl ein „Ermittlungsdefizit“, dessen Aufklärung möglicherweise zu einem Verzicht auf die Genehmigung führen müsse.

Ursprung des jahrzehntelangen Rechtsstreits ist, daß RWE das Kraftwerk einige Meter versetzt vom heutigen Standort geplant hatte. Nachdem entdeckt worden war, daß der Meiler unmittelbar auf der Spalte zwischen zwei tektonischen Platten der Erdkruste stehen würde, versetzte der Bauherr Teile der Anlage um ein paar Meter, ohne eine neue Genehmigung zu beantragen. Mehrere Gerichte mußten sich mit dem Thema beschäftigen. Zwar gab die Behörde 1990 ihr Okay für den neuen Standort; doch dabei hat sie nach Einschätzung der rheinland-pfälzischen Richter wichtige Punkte für die Schadensvorsorge mißachtet.

Drei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts sind jetzt für das AKW denkbar, das seit fast zehn Jahren keinen Strom produziert hat und in dem knapp 500 Angestellte nur damit beschäftigt sind, die Anlage vorm Verfall zu bewahren: Entweder weisen die Richter die Revision zurück – dann wird das Milliardenprojekt endgültig zur Ruine. Oder sie entscheiden die Sache selbst und geben dem Eilantrag von RWE statt: Dann darf das Kraftwerk 120 Tage lang Strom produzieren; für einen langfristigen Betrieb fehlt noch die Genehmigung. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß die Bundesrichter die Sache an ihre Kollegen in Rheinland-Pfalz zurückverweisen. Dann dauert das langsame Aus für Mülheim-Kärlich weitere Jahre.