Mit Spannung erwarteten die Delegierten beim SPD-Parteitag die Rede von Gerhard Schröder. Wer glaubte, der Niedersachse würde sich klar von Parteichef Oskar Lafontaine absetzen, lag falsch. Die Differenzen in der Wirtschaftpolitik ließen si

Mit Spannung erwarteten die Delegierten beim SPD-Parteitag die Rede von Gerhard Schröder. Wer glaubte, der Niedersachse würde sich klar von Parteichef Oskar Lafontaine absetzen, lag falsch. Die Differenzen in der Wirtschaftpolitik ließen sich allenfalls erahnen.

Harmonie made in Hannover

Nervös lief Gerhard Schröder am Tag vor seiner Parteitagsrede in seinem Büro auf und ab. Die Haare waren verschwitzt, das Gesicht blaß, der Kiefer vorgeschoben, er war unwirsch. Sein wirtschaftspolitischer Berater Bodo Hombach und sein Sprecher Uwe- Karsten Heye schrieben währenddessen an dem Redentext, der nach Lafontaines umjubelter Rede neu geschrieben werden mußte. Auch Ehefrau Doris redigierte mit. Das Ergebnis der Bemühungen: Am Ende der zurückhaltend beklatschten Rede sagte Fraktionschef Rudolf Scharping zu Oskar Lafontaine: „Das war doch ganz ordentlich.“

Nach der mit Standing ovations bedachten Rede Lafontaines war die Hürde für Schröder sehr hoch. Die Spannung war groß. Zwei unterschiedliche Lager standen sich gegenüber.

Die einen meinten, Lafontaine habe sich weise zurückgehalten, lediglich Grundsätzliches angesprochen und damit Schröder Platz für die Details künftiger Regierungspolitik gelassen. Schröder könne sich nun mit der Klaviatur der Zumutungen profilieren, auf die auch eine sozialdemokratische Regierung aufgrund der leeren Haushaltskassen nicht verzichten könne. Lafontaine stehe für Gerechtigkeit und Schröder für Innovation. Auf diese Weise ergänzten sich beide.

Die anderen sagten, Lafontaine habe den Spielraum für Schröder durch seine Rede derart eingeengt, daß dieser nun in der Bredouille sei. Mit seiner gefeierten, werteorientierten Rede habe Lafontaine die SPD von Schröder abgegrenzt. Der Niedersachse könne die Eckpfeiler, internationale Harmonisierung von Steuern und Abgaben, uneingeschränktes Bekenntnis zum Euro, kein Lohnverzicht, keine weiteren sozialen Einschnitte, nicht mittragen. Lafontaine habe ausdrücklich klargestellt, daß er eben gegen eine Politik des Verzichts und gegen den armen Staat sei.

Nach Schröders Rede schwankten die Meinungen zwischen Enttäuschung und gedämpfter Zufriedenheit. Nur Schröders Ehefrau Doris zeigte sich „überglücklich“ über diese „ganz hervorragende“ Rede.

Zu Beifallsstürmen konnte Schröder die Delegierten nicht hinreißen. Immer wieder versuchten einige, ein Klatschen zu intonieren. Häufig mißglückten diese Versuche. Am Schluß blieben die Delegierten auf ihren Stühlen sitzen. Erst nach einer Weile standen viele, aber beileibe nicht alle auf.

Schröder verwandte den größten Teil seiner Rede auf die Zustandsbeschreibung der Republik. Der Anteil der Selbständigen sei zu niedrig, es gebe zu wenig Risikokapital, zu viele Gesetzesverordnungen. „Das müssen wir ändern“, fügte er an, ohne konkreter zu werden. Lebhaft geklatscht wurde fast nur, wenn Schröder den Regierungswechsel einforderte, von Ablösen sprach, von Siegesgewißheit, und Sätze gebrauchte, die auch von Lafontaine stammen könnten. „Dem Markt müssen Ziele gesetzt, ihm muß Moral und Richtung gegeben werden.“

Schröder sei eben kein guter Redner vor großen Mengen, hieß es aus seinem Lager. Mehr habe man von ihm nicht erwarten können. Wichtig sei, daß die Harmonie des Parteitags nicht gestört worden sei. Zudem habe Schröder klargestellt, daß er in der Tat für eine modernere Wirtschaftspolitik als Lafontaine stehe. „Man muß nur zwischen den Zeilen lesen“, hieß es, und in einer anderen Varitation: „Man muß Wort für Wort lesen.“

Bedeutsam war nach dieser Lesart der Satz: „Ökonomie ist gewiß nicht alles, aber ohne wirtschaftlichen Erfolg ist vieles andere nichts.“ Schröder habe damit im Gegensatz zu Lafontaine der wirtschaftlichen Entwicklung eine größere Bedeutung für die Zukunft beigemessen.

Ein Denkzettel für Lafontaine soll die Bemerkung gewesen sein: „Was Oskar in seiner Rede uns allen aufgegeben hat, dafür müssen wir hart arbeiten, wenn es Realität werden soll.“ Bezeichnend sei Schröders Beispiel von einem Betrieb der Continental AG. Schröder hatte berichtet, die existenziell bedrohte Firma habe zusammen mit ihrer Belegschaft „höchstmögliche Flexibilisierung“ gezeigt, indem sie sich auf unbezahlte Mehrarbeit, Verzicht auf Sondergratifikation und zehnprozentige Lohnkürzungen geeinigt habe. Der Betrieb habe die Krise hinter sich, sagte Schröder. Dies wurde als Beleg gewertet, Schröder habe im Gegensatz zur rückwärtsgewandten Träumerei Lafontaines realitätsbezogene Wege aus der Krise gewiesen.

In der Frage der Kanzlerkandidatur ist nach weitverbreiteter Ansicht noch keine Vorentscheidung gefallen. Lafontaine, der erst kürzlich sieben Kilo abgenommen hat und sich die Zähne überkronen ließ, hat zwar mit seiner die Delegierten begeisternden Rede nachdrücklich unterstrichen, daß er die erste Wahl für die Kanzlerkandidatur ist, aber mehr auch nicht. Beide haben offene Konfrontationen vermieden. Vor allem Schröder, dem das nicht unbedingt zugetraut worden war, hat dadurch Sympathien geerntet.

Dennoch liegt die Latte für Schröders Kandidatur seit dem Parteitag ein Stückchen höher. Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering sagte: „Der Wahlkampf wird zu guter Letzt unter dem Motto Gerechtigkeit laufen.“ Und wer könnte das besser verkörpern als derjenige, der diesen Schwerpunkt selbst gesetzt und damit die Delegierten hinter sich gebracht hat?

Letzlich wird wohl die Demoskopie entscheiden. Wenn Schröder in den Meinungsumfragen nach der Niedersachsen-Wahl immer noch deutlich vor Lafontaine liegt, würde der Parteichef wohl auf seine eigene Kandidatur verzichten. Die Reden von Hannover werden dann bereits in Vergessenheit geraten sein.

Schröder hat einmal die Vermutung geäußert, Lafontaine sehe sich in einer Tradition mit den großen Parteivorsitzenden Bebel und Brandt. Lafontaine würde diesen Ruf für die Ewigkeit als zweimal gescheiterter Kanzlerkandidat verlieren, zumal wenn er den aussichtsreichen Kandidaten zuvor ausgebootet hätte. Verzichtet der Saarländer aber großzügig für Schröder, bleibt sein Ruf als bemerkenswerter Parteivorsitzender unbeschadet.

Es darf also weiter über die Kandidatenfrage gerätselt werden, zumal der Wunsch eines Delegierten, „am liebsten wäre mir, Schröder ist Kanzlerkandidat und Lafontaine Kanzler“, nicht erfüllt werden kann. Dabei geht es nicht allein um die Befriedigung der Neugier nach der Person des Kandidaten, sondern vielmehr um die Position der SPD im Wahlkampf. Denn der Parteitag hat zwar gezeigt, was Lafontaine will, und bedingt, was Schröder will. Offen bleibt aber: Was will die SPD? Markus Franz, Hannover