: Warten auf Viertel vor zwei
Gesichter der Großstadt: Charlotte Baumgardt schreibt Gedichte über die Ossis und Lieder über den Alexanderplatz. Einmal in der Woche hat die 87jährige ihren großen Auftritt ■ Von Jens Rübsam
Letztens erst hat der alte Herr Pollak die Leute im Haus gefragt: „Ist die Frau Baumgardt aus dem dritten Stock eigentlich noch da?“
Samstag mittag, Friedrichshain, Finowstraße 9. Charlotte Baumgardt hat sich feingemacht. Blaues Kleid, Perlenkette, eine Brosche am Ausschnitt. Den Abwasch hat sie erledigt, es gab Rindfleisch, süßsaure Sauce und Salzkartoffeln. Die Stube hat sie in Ordnung gebracht, viel aufzuräumen war nicht. „Bei mir ist ja immer alles sauber.“ Ein Stündchen noch wollte sie sich hinlegen. Aber über ihr lief „Bumsmusik“, und bei „Bumsmusik in dieser Lautstärke kann doch kein Mensch ein Auge zumachen“. Also hat sie sich angezogen, an den Tisch gesetzt, hin und her überlegt, was sie heute im „Prater“ vortragen wird. Ein Gedicht oder ein Lied? Was Selbstausgedachtes soll es schon sein. Nun wartet sie darauf, daß es Viertel vor zwei wird. „Da muß ich nämlich los.“ Einmal in der Woche geht Charlotte Baumgardt „groß“ aus, in Prenzlauer Berg. Seit einem Jahr treffen sich immer samstags um drei fünfzig Senioren im „Prater“ zum Tanztee. Um halb fünf ist Tanzpause. Da hat Lotti oder Lottchen, so wird sie genannt, ihren Auftritt.
Noch bleibt etwas Zeit. Vielleicht Fernsehn gucken? „Nein.“ Erst gestern hat sie in den Nachrichten gesehen, wie ein Betrunkener eine Frau überfuhr. Vier Kinder hat die junge Frau hinterlassen – und Charlotte Baumgardt hat sich wieder einmal gefragt: „Was ist das nur für eine Welt?“ Manchmal schreibt sie die Dinge auf, die sie bewegen. Ein dreistrophiges Gedicht über Berlin („Unter den Linden war das Bummeln einst so schön“) ist dabei herausgekommen, ein vierstrophiges Lied über den Alexanderplatz („Für die Berliner war er einst ein schöner Schatz“).
Wie viele Gedichte und Lieder es mittlerweile sind? Charlotte Baumgardt will lieber reden als Zeilen zählen. Wenn schon mal Besuch da ist. Irgend jemand hat mal zu ihr gesagt: „Lottchen, schreib dein Leben auf!“ Damals hat sie nur geantwortet: „Ich kann das nicht.“ Es war wohl vielmehr eine Flucht. „Zu traurig wäre das Geschriebene geworden.“
Das Leben. Geboren in Gartz an der Oder als Kind armer Leute. Ihr Vater wollte Jurist werden, er wurde Schreiber am Amtsgericht. Ihre Mutter war Schneiderin und hat die acht Kinder zu „ordentlichen und feinen Kindern“ großgezogen. Die eine hatte das Zeug zur Operettensängerin, die andere, Charlotte, zur Lehrerin. Eine Eins in Schreiben, Lesen, Singen und Gedichteaufsagen. „Ich war die Beste in der Klasse.“ Den Eltern aber fehlte das Geld, und so blieben die Wünsche der Mädchen Träume. Charlotte wurde Verkäuferin. Von morgens sieben bis abends acht stand sie im Fleischerladen, für anfangs 120 Mark im Monat. Da war sie schon von zu Hause fortgegangen, nach Berlin. Hatte ihren Herbert, Nagler von Beruf, kennengelernt. War sie schon Mutter von zwei Kindern, Karin und Manfred.
Charlotte Baumgardt hört auf zu erzählen, blickt hinüber zur Wand. Dort hängt, hübsch eingerahmt, ein Bild mit zwei lustigen Kindergesichtern. Karin war zwei, als sie an Typhus starb, Manfred war zehn, als er von den Russen überfahren wurde. Herbert, ihr Mann, hat den Tod der Kinder nie verwunden. „Er ist daran zugrunde gegangen“, erzählt sie. Gestorben an Krebs. Seitdem ist Charlotte Baumgardt allein – mit einer Wohnung voll Erinnerungen. Seit 1935 wohnt sie in dem Haus in der Finowstraße, in einer Wohnung, die der Zeit getrotzt hat. Am Kleiderständer hängen Bügel aus den 30er Jahren mit der Aufschrift „Heiter durch Heitinger – Modegeschäft in der Frankfurter Allee 300“. Die Lämpchen im Flur sind 60 Jahre alt, auch die Konsolen an der Stubenwand und ein paar Kleider im Schrank. „Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuschmeißen.“ Als es nun hieß, die Wohnung soll saniert werden, hat sich Charlotte Baumgardt dagegen gewehrt. 725 Mark Miete hätte sie nie aufbringen können. Jetzt zahlt sie 305 Mark, und der Eigentümer schickt „freche Briefe“ ins Haus – „wegen ruhestörenden Lärms und Verschmutzung des Gartens durch Brotkrumen“. „Man will mich hier raushaben“, sagt Charlotte Baumgardt und erzählt noch einmal die Geschichte mit dem Herrn Pollak in der Etage unter ihr, der gefragt hat, ob sie denn noch da sei.
Es ist Viertel vor zwei, Zeit zu gehen. Im „Prater“ warten die Senioren auf die Musik. Ein paarmal tanzt auch Charlotte Baumgardt. Nicht durchgehend, wegen der Hüfte. Es wird halb fünf. Lotti geht ans Mikrofon, sie singt vom Alexanderplatz. Den Applaus nimmt sie mit nach Hause. Er hilft über die Woche hinweg.
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