: Vom Lucky Streik zum Angry Streik
Sie wollen nicht mehr lieb und lustig sein: Die Berliner StudentInnen suchen nach einem breiteren Streikbündnis und handfestem Streit mit den Bildungspolitikern. Vorreiterin ist die besetzte Humboldt-Universität im Osten der Stadt ■ Von Holger Kulick
Ein Präsident, der Polizei gegen seine Studenten einsetzt, muß abtreten!“ Zornig reagierten am Montag abend, abgedrängt von Polizeiketten, StudentInnen vor dem Präsidialamt der Freien Universität (FU) in Berlin. Die Polizei räumte auf Geheiß des als progressiv gerühmten Unipräsidenten Johann Gerlach 92 Besetzer aus den Büros. Über 20 werden zur Personalienfeststellung geschleift.
Am Nachmittag war die Vollversammlung des FU-Instituts für Politikwissenschaften (OSI) in den Amtssitz des FU-Präsidenten gezogen und forderte ihn auf, es seinen Amtskollegen Meyer von der Humboldt-Universität (HU) und Ewers von der Technischen Universität (TU) gleichzutun und sich gegen das rigide neue Streichprogramm des Senats an den Berliner Hochschulen zu wehren.
Berlin trifft die konservative Bildungspolitik hart: Bis 2003 sollen etwa 1 Milliarde Mark eingespart werden, dies bedeutet den Wegfall von Fachbereichen in der Größenordnung einer ganzen Uni. Allein an der FU soll demnach die Zahl der Professoren fast halbiert werden, und rund 40 Prozent der Stellen für AssistentInnen und TutorInnen fallen weg. FU-Präsident Gerlach weigerte sich am Montag, auf die Studentenforderungen einzugehen und berief sich auf einen umstrittenen Beschluß des Akademischen Senats der FU, der in einer tumultartigen Sitzung in der vergangenen Woche eine Neuverhandlung abgelehnt hatte.
Erst nachdem die StudentInnen vertrieben waren, verließ Gerlach sein Büro und weigerte sich, auf Nachfragen einzugehen: Weiter mit den Studenten zu diskutieren hätte er für „sinnlos“ gehalten. Dennoch werde er am heutigen Mittwoch mit Professoren und den anderen Uni-Präsidenten für die Studenten demonstrieren gehen.
Die Studenten waren am Dienstag noch sauer: FU-Präsident Gerlach gehöre nicht an ihre Seite, wenn er seine Strafanzeigen gegen jeden einzelnen Besetzer aufrechterhalte und erneut gegen sein Versprechen Polizei auf den Campus hole. Gerlachs Überreaktion geschah genau in dem Moment, als die Streikbereitschaft an der FU abzuflauen drohte, begrüßten andere Studentenvertreter sogar seine Aktion. Dadurch würden „einige wieder wach“. Denn mehrere Fachbereiche hatten ihre Streiks abgebrochen, und einer FU-Vollversammlung am vergangenen Freitag fehlte mit nur 1.800 Teilnehmern die Beschlußfähigkeit. Fünf Prozent der Studierenden müssen durch sie vertreten sein. Selbst am OSI hatten Streik- AGs wenig Zulauf: Viele hätten blaugemacht, berichten Studentenvertreter, dabei gäbe es eine solche „solidarische Streiksituation aller Unis sicher in den nächsten 30 Jahren nicht mehr“.
„Wir verkacken alles, wenn wir nicht mehr aus dieser verkackten Situation machen“, wurden am Montag auch Stimmen auf der VV der Humboldt-Universität laut, die in Berlin als tonangebend für die Streikbewegung gilt. Die Uni ist seit 10 Tagen besetzt, „damit ihr morgen noch reinkommt“, wie ein Transparent am Eingang erklärt. Vierundzwanzig Stunden am Tag steht der Hintereingang für Studenten offen, vollbesetzte VVs, Vorträge und Kulturprogramme der jungen Besetzer wechseln sich ab. Im Foyer legen DJs Platten auf, um die Ecke tagen AGs. Besonders aktiv sind die Erst- bis Drittsemester, weil sie von den Kürzungen am heftigsten betroffen sind. „Damit beweisen wir auch, daß das ganze Gefasel von der unpolitischen Generation X Soziologengewäsch ist“, sagt ein Demoleiter: „Totgesagte kämpfen besser.“
Auch der Zusammenhalt an der HU ist größer. Letzten Freitag hatten nach Auszählung mittels „Hammelsprung“ 1.988 StudentInnen für die Fortsetzung von Streik und Besetzung der HU bis Freitag dieser Woche votiert, 777 StudentInnen (29 Prozent) gingen bei dem Zählgang durch die Contra-Tür. „Das ist die demokratischste Entscheidung, die hier je getroffen wurde“, lobten Streikratssprecher, zugleich sei dies „Anerkennung der geleisteten Arbeit“. Denn auch inhaltlich setzt die HU in Berlin besondere Akzente. Wenn auch zwischenzeitlich tief gespalten, hat ein vielköpfiger, junger Streikrat einen gemeinsamen Forderungskatalog ausgehandelt, den die HU-Vollversammlung unter großem Jubel als Kompromißpapier billigte.
„Keine Eliteuniversitäten! Keine Studiengebühren! Bildung für alle!“ sind Kernpunkte des Papiers, das ferner sechs Kapitel mit 18 Einzelforderungen an den Berliner Senat enthält und fünf Kapitel mit 17 Forderungen an die Bundesregierung: Die Unabhängigkeit der Hochschulen soll garantiert werden, die Ausbildung inhaltlich verbessert werden, die Gleichstellung von Nicht-EU-Angehörigen wird gefordert, ebenso endlich Frauengleichberechtigung. Die Novelle zum Hochschulrahmengesetz soll neu verhandelt werden, ebenso der Sparvertrag zwischen HU und Berliner Senat: „Die Universität ist nicht die Vollstreckerin von Kürzungspolitik!“ Eine Präambel gegen „Bildungs- und Sozialabbau“ steht dem Katalog voran, der jetzt auch als Grundlage einer gesamtberliner Forderungsliste dienen soll.
Am Montag hat sich die „AG Forderungen“ der HU umbenannt in „AG Umsetzung“ mit dem Ziel, mit politischem Druck die Thesen auch unters Volk zu bringen: „Wir haben es satt, immer nur mit Geldforderungen in Zusammenhang gebracht zu werden, es geht um soviel mehr!“ beteuern die Sprecher. Der Protest soll bis ins Abgeordnetenhaus getragen werden, das ab Donnerstag die Berliner Sparpläne berät. Blockadeaktionen zum Beispiel am Potsdamer Platz sollen den Interventionen Nachdruck verleihen.
Bislang hat die Polizei in der Regel zuvorkommend beim Abriegeln von Straßen geholfen und Autofahrer beruhigt. Sie verlieh Megaphone und stellte Lautsprecherwagen zur Verfügung, damit die Studenten Hitzköpfe in den eigenen Reihen beruhigen konnten. Beim Rekordmarsch von polizeigezählten 33.000 StudentInnen zum Roten Rathaus am vergangenen Donnerstag lobte ein Polizeipressesprecher, wie „total friedlich“ diese Proteste abliefen: „Daß das einen Happening-Charakter hat, sehen Sie ja an unserer Dienstkleidung“ – ohne Helm. Das könnte jetzt anders werden: „Wir wollen nicht länger nur belächelt werden, sondern ernstgenommen mit unseren Anliegen“, machen Studentensprecher auf der Humboldt-VV deutlich.
Seminare in Waschsalons, in die U-Bahn und auf öffentliche Plätze zu verlegen oder mit aufgespießten Kohl-Köpfen für den Kanzler zu demonstrieren, führe zwar zu vielen Pressefotos, aber offensichtlich nicht zu neuem Denken in der Bildungspolitik. In Flugblättern ruft die HU deshalb jetzt dazu auf, vom „lucky streik“ zum „angry streik“ überzugehen.
Die Angst, vielleicht nichts zu erreichen, aber Scheine zu verpassen, läßt allerdings auch an der HU erste Ermüdungserscheinungen aufkommen. So stimmten am Montag nur noch 54 Prozent der MedizinstudentInnen auf einer kontroversen und überfüllten Vollversammlung in der „Sparité“ (Transparent an der Großklinik Charité) für die Fortsetzung des Vollstreiks, 46 Prozent stimmten beim „Hammelsprung“ dagegen, weil sie sich längeren Streik nicht leisten könnten. Die HU-Besetzer wollen allerdings „Streikleistungsscheine“ durchsetzen.
Für die Erfolglosigkeit des Protests zeichnet vor allem Berlins zuständiger Kultur- und Wissenschaftssenator Peter Radunski (CDU). Ähnlich wie der Bundeskanzler will er die überraschende Bewegung offensichtlich aussitzen. Dem Boulevardblatt BZ sagte er: „Ich finde es okay, daß die Studenten auf die Straße gehen“, in den Hochschulverträgen wäre aber „festgelegt, was jede Uni bekommt. Leider auch mit den Einsparungen.“ Damit ist Radunski der erste Fachsenator Berlins, der seine Ressorts nicht offensiv verteidigt, sondern die Streichungen offensichtlich will. HU-Präsident Hans Meyer, den die Humboldt-VV am Freitag vorgeladen hatte, appellierte an die StudentInnen, ihre Aktionen nicht gegen die Uni zu richten, sondern gegen die eigentlichen Verantwortlichen: „Sie wissen doch, wer das ist.“
Meyer hat trotz eigener Skepsis gegenüber den vielen jungen Demonstranten zugesagt, den unter Druck von über 2.000 Studenten herbeigeführten Beschluß des Akademischen Senats der HU umzusetzen und Radunski auf einer Rektorenkonferenz am 18.12. zu Korrekturen zu bewegen.
Derweil wächst die Rückendeckung für die StudentInnen. Mit anderen Gruppen – von Kitas bis zu den Gewerkschaften – werden derzeit gemeinsame Aktionen erdacht. 23 Schulen kündigten vorgestern Solidaritätsstreiks an, SchülerInnen des Charles-Darwin-Gymnasiums in Berlin-Mitte ließen sich gestern auf den Bänken vor dem Roten Rathaus von StudentInnen unterrichten.
Die TU, die den Riß zwischen Streikwilligen und Studierwilligen zeigte, meldet inzwischen immer einfallsreichere und regere Protestbeteiligung – bis ins Detail. Deftigster Spruch auf einem Aushang, auf dem Button-Sprüche gesucht werden: „Versace, Diana, und jetzt auch noch die Bildung.“ Auf Flugblättern wird vehement um Solidarität geworben, Seminare zu sprengen: „Streik ist Bildung! Also bildet euch. Wir denken an die, die nach uns kommen.“
Andere bauen darauf, daß die Einsicht der noch trägen Masse nicht durch den moralischen Zeigefinger, sondern „feinfühlige Maßnahmen“ kommt: Studenten des größten TU-Fachbereichs Architektur setzten ihre streikunlustigen KommilitonInnen gestern nacht vor die Tür, um sie zum Nachdenken zu bringen. Alle 1.000 Stühle im Architekturgebäude wurden in einer Blitzaktion auf die Straße gestellt. Das Motto: Wer seinen Studien(sitz)platz wiederhaben will, muß sich bewegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen