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Die „Unmittelbare Familie“

In der Ära Mapplethorpe politisierte die Fotografin Sally Mann die Inszenierung im Garten Eden, indem sie ihre drei Kinder in nacktem Übermut ins Bild setzte  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Klassiker haben immer Saison, und insofern ist nichts dagegen zu sagen, daß Sally Manns ungewöhnliches und ungewöhnlich dichtes Fotobuch „Immediate Family“ fünf Jahre nach seinem Erscheinen in den USA in einer deutschen Ausgabe nachgereicht wird.

Das fotografische Projekt von Sally Mann meint übrigens keineswegs die Familie Mann, denn weder Sally noch ihr Ehemann Larry kommen als Eltern darin vor. Es geht ausschließlich um die Kinder, denen gelegentlich andere Kinder oder auch Erwachsene an die Seite gegeben werden.

Die wichtigsten Darstellerinnen der Unmittelbarkeit sind die Töchter Jessie und Virginia. Jessie, die ältere, ist eine typisch nordamerikanische Schönheit mit breiter Stirn und horizontal gezeichneten Augenbrauen, die so aussehen, als wäre die Frontpartie eines Automobils das Vorbild. Virginia, die jüngere, ist das kindlichere Kind mit einem humoristischen Glanz in den Augen. Das Kind muß ein ausgemachter Darling sein.

Was Sally Mann mit ihren Kindern unternommen hat, ist eine Reise durch kindliche Mythologien. Überdeutlich ist das illustriert mit einem Bild von Emmett, ihrem Ältesten, das ihn als regloses Bündel in der Passage eines schmalen Wasserkanals zeigt – offensichtliches reenactment der Geburt.

In den meisten Bildern sind Gefahr und Rettung zum Stillstand gekommen. Das Porträt in der Gruppe kehrt die existentielle Einsamkeit heraus. Die Nacktheit ist zugleich Zeichen von Übermut und Angst.

Das Spiel mit Spiegeln und Kosmetika im Schatten eines Pick-up- trucks fällt unter den Blick eines grimmigen Hundes. Die Mädchen, mit Zigarette (Jessie, 8) und Herzchensonnenbrille (Virginia, 5) als „Die neuen Mütter“ posierend, geben erschreckend emanzipierte Flittchen.

Obwohl in den Fotografien eine Atmosphäre viktorianischer Morbidität vorherrscht, gleicht die Psychologie eher der Kraßheit Grimmscher Märchen, wo Wölfe liebenswürdige Dinge sagen und sich bei lebendigem Leib lebendige Großmütter aus dem Magen schneiden lassen. Die Fotografin ist offensichtlich fasziniert davon, wie ihre Kinder mit einem Fuß in der Vorzeit stehen und mit dem anderen in der Zukunft. Gerade der Phantasie von Kindern, der Kindheit durch magische Gesten und Handlungen zu entfliehen, hat sich das Naturtheater der Mannschen Fotografie verschrieben. Es handelt sich jedoch nicht um gelungene Privatfotos einer ambitionierten Mutter, sondern um die Arbeit einer akademisch ausgebildeten Fotografin, die vor der Linse einer riesigen, akkurat aufzeichnenden Kamera ihre Traumtableaus entwirft. Zur Zeit sind fotografische Originale, handgemachte Prints, in Berlin zu sehen. Mit der Präsenz der Bilder wächst die Kraft ihrer Metaphern.

Das listigste Bild zeigt Virginia als Vierjährige, zurückgelehnt in den Schoß eines anonymen Mannes, dessen rechter Ringfinger auf ihrer Kehle sitzt und dessen kleiner Finger der anderen Hand Virginias ausgestreckten Arm in vertrauter Weise stützt. Ihre Brustwarze ist unauffällig auf Insekt geschminkt, und unterhalb ihrer Schulter gibt es einen Abdruck, wie von Lippenstift, der an einen Skorpion oder Krebs erinnert. Virginia sieht den Betrachter an, absolut ruhig, einen Anflug von Amüsement in den Augen – in geduldiger Erwartung des Himmelreichs.

Das biblische Motiv des zu opferndes Kindes ist gewiß nicht zufällig berührt: Sally Manns wunderbare Welt schrecklicher Träume bezieht sich direkt auf die hysterische Formel der amerikanischen family values. Einerseits bedient Mann das Muster, indem sie Musterkinder ausstellt. Andererseits macht sie sich über die Vorstellung einer Bedrohung durch ein „fremdes“ Außen auf eine Weise lustig, die gekonnt die Abgründe der Geschmacklosigkeit streift. Sie aktiviert sehr wohl die Klischees mütterlicher Angst; aber statt mit Formeln Zäune zu errichten, fixiert sie Gesichter, auf daß sie ihre Masken preisgeben.

Sally Mann, jetzt 46 Jahre alt, ist als junge Frau selbst zurückgekehrt an den Ort ihrer Kindheit im Bundesstaat Virginia. Der Arbeit der immediate family liegt die Vorstellung einer tradierten Landschaft und einer durchaus exzentrischen Lebensform zugrunde.

Sie nennt sich selbst „eine schamlos Borgende“: Die Zitate sind überall. Es gibt offensichtliche Anleihen – der Torso des kleinen Jungen bei Edward Weston, angewandt auf Emmett –, aber auch nahezu unmerkliche. So beruht das Bild von „Virginia mit drei Jahren“ (1988) auf einer Fotografie von Roman Vishniac aus dem Warschauer Ghetto. Sally Mann blättert in den Archiven der Moderne wie im Album der fotografischen Familie: daß dieselben Augen nach einem halben Jahrhundert wiederkehren, ist vorgesehen.

Sally Mann: „Unmittelbare Familie“. Knesebeck Verlag, München, 1997, mit 60 Tafeln, 58 DM. Fotografien bei Galerie Bodo Niemann, Hackesche Höfe, Berlin

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