Knallfrösche liefern

Sebastian Haffner, der Autor von „Anmerkungen zu Hitler“, wird heute 90. Nie hat er dauerhaft in eine Schublade gepaßt. Verläßlich war einzig seine Fähigkeit, auf die neuen Verhältnisse mit neuen Meinungen zu reagieren. Stationen seines Publizistenlebens  ■ Von Christian Walther

Eigentlich hatte er am Ende einer gutbürgerlichen Juristenkarriere Staatssekretär werden wollen. Und das hätte auch was werden können. Sebastian Haffner, der heute zurückgezogen in Berlin lebt, hatte einen günstigen Start.

Berlin,

27.Dezember 1907

Bedeckt, –8 Grad. Die Philharmonie bereitete sich auf den Silvester- Maskenball mit Kostümpolonaise im Schneegestöber vor. Das KaDeWe bot Gummischerzartikel zu 4, 8, 18 und 25 Pfg. an. Die Stadtverwaltung befragte die Schulrektoren nach der Zahl der Kinder, die regelmäßig oder häufig kein Frühstück zu Hause erhalten. Eine gewisse Maria Magdalena von Losch feiert ihren 6. Geburtstag. Als Marlene Dietrich wurde sie berühmt.

Zur gleichen Zeit kam Raimund Pretzel in Moabit zur Welt, der seinen Namen später zu Sebastian Haffner änderte, ändern mußte. Seine Mutter hieß Wanda, der Vater Louis Pretzel, war städtischer Lehrer, der bis zum Regierungsdirektor im Brandenburgischen Provinzialschulkollegium aufstieg. Raimund war zeitweilig Klassenprimus, studierte Jura und machte 1933 sein Assessorexamen. Gegenüber Hitler verspürt Pretzel tiefe Abneigung. Er mochte dessen wilden Antisemitismus nicht.

Pretzel promovierte, arbeitete bei Gerichten und Anwälten und schrieb für Zeitungen. 1936 verließ er den Justizdienst. Doch der Rückzug ins Private scheiterte am Privaten. Pretzel hatte Erika Hirsch kennengelernt. Und die war – jedenfalls nach Nazirecht – Volljüdin.

Pretzel schrieb zu dieser Zeit für Modezeitschriften des Ullstein- Verlags, der alsbald zum Deutschen Verlag mutierte. Die Ullsteins, Juden, wurden von den Nazis vertrieben. Das Paar entschloß sich zur Emigration. Erika Hirsch wurde schwanger und versuchte 1938 das Land zu verlassen. Erst der zweite Versuch, ein Visum zu bekommen, gelang.

Dann vereinbarte Pretzel Mitte August mit dem Deutschen Verlag, eine Reportage aus England zu liefern: 30 Pfund und die Fahrtkosten, für 120 Seiten, abzuliefern bis Dezember. Ein Auftrag als Fluchthilfe: Er wußte es – und seine Helfer im Verlag wußten es auch.

London,

29. August 1938

Der Wechselkurs für ein Pfund betrug 12,14 Reichsmark. Das Studio One zeigte „Der Kaiser von Kalifornien“ mit Louis Trenker, die Sudetenkrise beherrschte die Presse, und das BBC-Promenadenkonzert brachte „Tristan und Isolde“. An diesem Tag kam Pretzel mit der Eisenbahn in London an, brachte sein Akkreditiv zur Bank und fuhr weiter nach Cambridge zur Freundin.

Pretzel hatte sich nun mit Aufenthaltsgenehmigungen herumzuplagen; die Abschiebung drohte, er erhielt eine längere Frist und war sich gewiß: Bis die abläuft, ist Krieg.

Das Emigrantenpaar heiratete und bekam zwei Kinder, Sohn Oliver und zwei Jahre später die Tochter, heute bekannt als Malerin Sarah Haffner. Das Buch „Germany – Jekyll and Hyde“ erschien 1940. Als Autor zeichnete Sebastian Haffner, ein Pseudonym zum Schutz von Verwandten. Der Name sollte leicht auszusprechen sein und nicht jüdisch, vor allem deutsch klingen. Anspielungen auf Mozarts Haffner-Symphonie und Johann Sebastian Bach waren beabsichtigt.

Als das Buch rauskommt – es sagt den Selbstmord Hitlers voraus! –, ist sein Autor interniert. Von allen Kategorien für Ausländer hatte er die ungünstigste – weil er Deutscher ist, aber kein Jude.

Haffner wurde Mitarbeiter eines Emigrantenblattes mit Sitz in der Fleet Street. Gleich um die Ecke war der Observer zu Hause, eine etwas angestaubte Sonntagszeitung. David Astor, der Sohn des Verlegers, engagierte einige Autoren, um den Observer umzukrempeln – darunter George Orwell, Arthur Koestler, Isaac Deutscher, Richard Löwenthal und eben Haffner, den Astor für den besten Deutschlandkenner hielt, den man damals in England anheuern konnte. Dieser feindliche Ausländer wurde zum intellektuellen Rückgrat des Observer. Und Großbritannien tolerierte das.

Nach dem Krieg dann hatte Haffner Amerika entdeckt und die Nato erfunden – so zumindest ulkte man beim Observer. Er wurde Kalter Krieger. Er entwickelte den Gedanken eines neutralen Staatengürtels quer durch Europa, mit Deutschland als Zentrum. Astor druckte auch diese Ansichten Haffners, obwohl er sie nicht teilte. Das Verhältnis zu Astor verschlechterte sich. Also akzeptierte Haffner – inzwischen längst britischer Staatsbürger – Astors Angebot, als Korrespondent nach Berlin zu gehen.

Berlin,

September 1954

Die Stadt ist geteilt, das Brandenburger Tor noch offen. Haffners Artikel erschienen schnell auch in deutschen Blättern. Nach einiger Zeit hatte er eine wöchentliche Kolumne in der Welt. Doch da war sein Bruch mit dem Observer bereits besiegelt: Er war mit der Haltung seiner Zeitung zur Berlinfrage unzufrieden; sie war ihm zu weich.

Hamburg,

26. Oktober 1962

Nach einer bundeswehrkritischen Story besetzt die Polizei den Spiegel. Kanzler Adenauer sprach von einem „Abgrund von Landesverrat“. Welt-Kolumnist Haffner sah das völlig anders und beabsichtigte, es entsprechend zu kommentieren. Doch Welt-Verleger Axel Springer ließ es verhindern. Adenauer, so erinnert sich der damalige Springer-Intimus Ernst Cramer, habe den Verleger angerufen: „Da müssen Sie auf meiner Seite stehen.“ Haffner verbreitete seine Meinung dennoch, im ARD-Polit-Magazin „Panorama“: „Wenn die deutsche Öffentlichkeit sich das gefallen läßt, dann adieu Pressefreiheit, adieu Rechtsstaat, adieu Demokratie.“

Der Autor trennte sich von der Welt und wechselte zum Stern. Er schrieb fortan über Gott und die Welt und über das, was bald neue Ostpolitik genannt wurde.

„Am Donnerstag mußte ich einen Knallfrosch abliefern“, beschreibt der Kolumnist seine Aufgabe, und er hatte Spaß daran. Doch vieles, was Haffner spaßig findet, finden andere gar nicht witzig. Als er 1966 schrieb, einen Flüchtling an der Mauer zu erschießen sei zwar tragisch, aber selbstverständlich kein Mord, nennt ihn Springers Welt am Sonntag Paradepferd des UlbrichtRegimes und Anwalt des Mörders. Berlin,

2. Juni 1967

Die geplanten Notstandsgesetze erinnerten Haffner an alte Zeiten. Er dachte laut übers Auswandern nach. Die Notstandsgesetze kamen, doch Haffner blieb und wuchs in die Rolle eines publizistischen Staranwalts der Studentenbewegung. Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 schrieb er über „Die Nacht der langen Knüppel“: Das „Springer-Berlin von 67 (ist) in der Sache, wenn auch nicht in der Form, wieder ein faschistisches Berlin“. Im Oktober forderte er dann die Enteignung der Springer-Presse – weil sie ihre publizistische Macht „in frivoler und gemeingefährlicher Weise mißbraucht“. Arnulf Baring, FU-Historiker und Freund Haffners, sieht in dieser Zeit Haffners „linke Phase“; seine Tochter habe ihn da richtig mitgezogen. Die sieht das ähnlich und erinnert sich an die Berliner Vietnam-Demonstration vom Februar 1968. Da habe der Vater mitdemonstriert und sogar „Ho Chi Minh!“ gerufen – „aber nur einmal“. Von 1964 bis 1972 schreibt er regelmäßig eine Literaturkolumne für konkret, das inoffizielle Zentralorgan der Apo. Prominenteste Redakteurin war Ulrike Meinhof. Das Nebeneinander von Sex und Politik in konkret sagte dem mittlerweile 60jährigen nicht sonderlich zu, stellte er sich doch als eher prüde dar. Aber er war froh, daß man ihn schreiben ließ, was er schreiben wollte.

Zur „linken Phase“ Haffners zählt auch die Arbeit über die deutsche Revolution von 1918: „Der Verrat“. Für viele Linke ein Augenöffner, aus Sicht Barings ein völliger Fehlschlag und eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Sozialdemokraten.

Seine Kolumnen liefert Haffner bis 1975. Danach konzentrierte sich der Hobbyhistoriker aufs Bücherschreiben. Nach der bereits 1967 erschienenen Churchill-Biographie kamen nun die „Anmerkungen zu Hitler“. Ein Aufreger. Kurz und kontrovers. Dabei bedurfte es einer gewissen Kühnheit – und wohl auch einer Emigrantenbiographie –, erst einmal in drei Kapiteln Hitlers Leben, Leistungen und Erfolge darzustellen. Erschrocken fragte sich mancher Leser, was das denn nun wohl zu bedeuten hatte. Doch Haffner kriegte die Kurve: „Irrtümer“, „Fehler“, „Verbrechen“ und „Verrat“ heißen die Kapitel, in denen Hitler demontiert wird.

Gleichwohl sind die „Anmerkungen“ für viele Freunde Haffners nicht nur auf der Linken ein Schock. So verblüffte die Selbstverständlichkeit, mit der er über Kriege und Kriegsverbrechen spricht: „Es liegt Weisheit darin, die sozusagen normalen Kriegsgreuel als Begleiterscheinungen einer unvermeidlichen Ausnahmesituation zu behandeln, in der gute Bürger und Familienväter sich ans Töten gewöhnen, und sie nach dem Kriege möglichst schnell in Vergessenheit geraten zu lassen.“

Staatsräson liegt Haffner näher als moralische Empörung, ein preußisch-deutscher Patriotismus näher als eine internationalistische Perspektive. Ab jetzt ließ die Linke Haffner rechts liegen.

Die „Anmerkungen“ sind, wie er später sagte, kein mit Liebe geschriebenes Buch, weil sie zu viele Widerwärtigkeiten der Nazizeit ins Bewutsein zurückrufen. Anders war es da mit „Preußen ohne Legende“, einer differenzierten Hymne in Moll. Auch dies – im Sinne des linken Mainstream – ein Tabubruch: Preußen jenseits der Klischees über Militarismus und ostelbische Junker.

Langsam wurde es stiller um den Publizisten. Die öffentlichen Auftritte werden selten, das Schreiben wird mühsam. Zu seinem 80. Geburtstag bekennt er, nicht ganz unzufrieden zu sein mit unserer Welt. Und ergänzt: „Ich möchte in keinem anderen Jahrhundert gelebt haben.“

Ein Fernsehporträt Haffners vom selben Autor ist am 5.1. um 22.30 Uhr unter dem Titel „Mit scharfer Zunge – Sebastian Haffner wird 90“ auf West3 zu sehen