Schlußstrich unter NS-Strafjustiz fehlt

■ Justizminister Schmidt-Jortzig will NS-Urteile flächendeckend aufheben. Doch sein Gesetzentwurf kommt bisher nicht voran

Freiburg (taz) – Das im Justizministerium geplante NS-Aufhebungsgesetz sorgt in der Bonner Koalition für Unruhe. Justizminister Schmidt-Jortzig (FDP) ließ Mitte des Jahres in seinem Haus einen Referentenentwurf erstellen, mit dem alle NS-typischen Strafrechtsurteile der Zeit zwischen 1933 und 1945 pauschal annulliert werden sollten. Schmidt-Jortzig beschwerte sich bereits mehrfach, daß die Union bei diesem Thema mauere. Sowohl SPD als auch Grüne haben deshalb kurz vor Weihnachten angekündigt, eigene Gesetzentwürfe einzubringen. Das sensible Thema droht in den Wahlkampfstrudel zu geraten.

Der Schmidt-Jortzig-Entwurf, der bisher nur unterderhand kursiert, sieht eine relativ weitgehende Annullierung von NS-Strafurteilen vor. Urteile des Volksgerichtshofes und der in den letzten Kriegstagen eingerichteten Standgerichte sollen ausnahmslos aufgehoben werden. Urteile der übrigen Straf- und Sondergerichte und der Militärjustiz, gelten dann als aufgehoben, wenn sie entweder auf Todesstrafe lauteten oder zumindest teilweise auf einem von 57 ausdrücklich genannten NS-Gesetzen beruhten, etwa auf der „Volksschädlingsverordnung“.

Auf Antrag des Verurteilten (oder nach dessen Tod auf Bitte seiner Verwandten) sollen die Staatsanwaltschaften eine ausdrückliche Bescheinigung über die Aufhebung des Urteiles aufstellen, so der Entwurf. Finanzielle Entschädigungen, wie sie jüngst den bestraften Wehrmachtsdeserteuren zugesprochen wurden, sind in Schmidt-Jortzigs Gesetzesplan nicht vorgesehen. „Sonst hätte das Gesetz wohl gar keine Aussicht auf Erfolg gehabt“, heißt es dazu im Justizministerium.

Der Referentenentwurf geht in zweierlei Hinsicht weiter als bisherige Annullierungsregelungen. Zum einen gilt er bundesweit und schafft damit einheitliche Rechtsgrundlagen, zum anderen erfaßt er auch viel mehr Urteile als die alten Regelungen. Vor allem einfache Straftäter, die in rechtsstaatswidrigen Verfahren abgeurteilt wurden, erführen nachträglich Gerechtigkeit.

Bisher scheiterte nämlich die Aufhebung von Strafurteilen aus der Zeit des Dritten Reichs häufig daran, daß sie nicht „ausschließlich“ auf NS-Gesetzen beruhten. Wenn etwa der Diebstahl aus einem zerbombten Haus mit der Hinrichtung bestraft wurde, so war zwar die exzessive Strafverschärfung NS-spezifisch, nicht aber die Strafbarkeit des Diebstahls. Hier will Schmidt-Jortzig festlegen, daß alle Todesurteile NS-spezifisches Unrecht waren, es sei denn, eine Tat wäre schon vor 1933 mit der Todesstrafe bestraft worden. Letzteres betrifft aber nur Mord und Sprengstoffattentate.

Außerdem wird auch bei Haftstrafen nicht mehr verlangt, daß die damalige Verurteilung „ausschließlich“ auf NS-Gesetzen beruhte. Es soll jetzt genügen, daß etwa die Strafbarkeit des Diebstahls durch die Volksschädlingsverordnung extrem verschärft wurde und entsprechende Urteile damit „teilweise“ auf NS-Unrecht beruhten.

Bislang war die Rechtslage unübersichtlich, weil in den Bundesländern unterschiedliche besatzungsrechtliche Regeln galten. In den Ländern der französischen Zone wurden NS-Strafurteile nur auf Antrag aufgehoben. In der britischen und amerikanischen Zone kamen automatische Aufhebungen in unterschiedlichem Umfang hinzu. Weil unklar war, ob die „britische“ Regelung nach einer Rechtsbereinigung im Jahr 1968 noch fortgalt, wurde 1990 für die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg ein „partielles Bundesgesetz“ erlassen, mit dem das Fortbestehen der alten Regeln klargestellt wurde.

Dagegen existiert in den neuen Ländern heute keine Annullierungsmöglichkeit mehr, nachdem die UdSSR ihr Besatzungsrecht 1954 generell zurückzog.

Der Referentenentwurf, der auch als „NS-Schlußstrichgesetz“ bezeichnet wird, ist als großer Wurf angelegt. Er soll vor allem den verheerenden Eindruck zurechtrücken, der in den 50er und 60er Jahren entstand, als der Bundesgerichtshof die Bestrafung der Richter verhinderte, die Dietrich Bonhoeffer in einem Standgerichtsverfahren zum Tode verurteilten. Seither wurde nur hier und da repariert.

Wie verwirrend die Rechtslage bisher war, zeigte der Versuch von zwei Initiativgruppen, die Rehabilitierung von Dietrich Bonhoeffer durchzusetzen. Völlig überraschend stellte 1996 das Landgericht Berlin fest, daß der evangelische Widerständler schon durch ein bayerisches Gesetz aus dem Jahr 1946 rehabilitiert worden war.

Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Geis (CSU), fürchtet, daß ein zusätzliches Bundesgesetz „die Rechtslage noch komplizierter machen“ könnte. Noch aber sei alles offen, betonte Geis auf Anfrage. Nach Informationen des Bundesjustizministeriums hat jedoch Mitte November eine „kleine Koalitionsrunde“ dem Schmidt-Jortzig-Entwurf eine Absage erteilt. Christian Rath