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Freie Fahrt für freie Bürger am Sielwall

■ Massive Polizeipräsenz sorgt für geregelten Verkehr an Bremens Krawall-Kreuzung / 500 „Autonome“bleiben friedlich / Randale in Hemelingen / Quasi-Bürgerkrieg am Marktplatz

Lässig kreiseln die Handschellen um den ausgestreckten Mittelfinger. Der Uniformierte daneben schlägt sich rhythmisch mit dem Schlagstock in die Hand. Funkgeräte quäken, völlig verzerrte Lautsprecher-Durchsagen hallen durch die Nacht, kein Mensch versteht sie. Irgendwie erinnert die gespenstische Szenerie an Nordirland, an Belfast oder an Straßensperren in Zaire. Nur die Kalaschnikow fehlt. Ansonsten sieht es an der Sielwall-Kreuzung genauso martialisch aus, wie bei Miliz-Kontrollen in Nairobi, Kinshasa, Lusaka...

Hermetisch abgeriegelt hat die Bremer Polizei das Viertel und der Autonomen liebste Kreuzung mal wieder zu Silvester. Hundertschaften aufgerüsteter Beamter aus der Hansestadt, aus Bremerhaven und vom Bundesgrenzschutz patroullieren zwischen Goethe-Theater und Ziegenmarkt, zwischen den Höfen und dem Osterdeich. Auf jeden der rund 600 Zivilisten kommen fast zwei Grünberockte. Um zwölf Uhr darf kurz gefeiert gewerden. Eine dreiviertel Stunde später dann der Einsatzbefehl: Kreuzung räumen, der Verkehr muß wieder fließen – auch an der Sielwallkreuzung, auch an Silvester gilt in der freien Hansestadt Bremen: freie Fahrt für freie Bürger. Ein Punk in Karottenhose tanzt trotzdem Pogo vor einem Taxi – nicht lange, dann ist auch dieses „Verkehrshindernis“beseitigt.

Zufrieden konstatiert später Innensenator Ralf Borttscheller (CDU), daß es auch dieses Jahr wieder gelungen ist, einen „zivilisatorischen Mindeststandard an der Sielwallkreuzung“einzuhalten. Als „Zeichen weiterer Normalisierung“wertet er zudem die Tatsache, daß die Ecke während der gesamten Silvesternacht für den Pkw-Verkehr geöffnet bleiben konnte. Außer „kleineren Vorkommnissen“– wie ein Hitler-Gruß Richtung Polizei und ein, zwei brüderliche Schlägereien unter Besoffenen – passiert die ganze Nacht nichts am Brennpunkt Nummer eins.

Nur einmal verkrampfen sich die Gesichter einiger Beamten, zuckt die Hand zum Gummiknüppel. Ein dicker Böller kullert unter einen Wasserwerfer, explodiert auf der anderen Seite des Kolosses, mitten zwischen den Beinen mehrerer Polizisten. Bevor die Situation aber eskaliert biegen sich zwei ihrer Kollegen vor Lachen – in der Hand eine riesige Plastiktüte voll mit Böllern.

Szenenwechsel: Völlig losgelöst von jeglicher Polizeipräsenz geben sich derweil auf dem Marktplatz mal wieder einige hundert BremerInnen ihrem Silvester-Lieblingssport hin: Wie schieße ich möglichst viele Leute mit einer Rakete ab oder Wie werfe ich meinem Nachbarn einen Böller unbemerkt zwischen die Beine? Wie durch ein Wunder gibt es keine Verletzten. In der Leher Heerstraße sprengen unterdessen zwei Unbekannte eine Telefonzelle in die Luft.

Die größten Ausschreitungen zum Jahreswechsel meldet die Polizei aus Blumenthal und Hemelingen. In der Lüssumer Straße randalieren elf Total-Besoffene. Kurz vor Jahreswechsel rotten sich zudem an der Dammerbergstraße 60 kriminelle Elemente zusammen, zünden Mülltonnen an und beschimpfen die „Bullen“. Erst als die Polizei Verstärkung – nicht von der Sielwallkreuzung – erhält und zwei der Randalierer festnimmt, „kehrt auch hier wieder Ruhe ein“, so der Polizeibericht. Den größten Sachschaden der Silvesternacht mit 200.000 Mark richtet derweil ein Adventsgesteck in Aumund an, das gegen 23.10 Uhr einfach Feuer fängt. Jens Tittmann

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