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Gefangen im Strudel der Öffnungszeiten

Zwischen Kita, Arbeitsplatz und Supermarkt: Viele Menschen stehen unter Dauerstreß, weil sie Beruf, Besorgungen und Freizeit nicht unter einen Hut bringen können. Sie stecken im Räderwerk der Zeitsysteme  ■ Von Achim Fischer

Helga Hetze hat keine ruhige Minute. Um sechs Uhr fängt ihr Alltag an: Aufstehen, Frühstück machen, Kinder anziehen, zur Schule bringen, und gleich geht's weiter zur Arbeit. Mittags brauchen die zwei Kurzen was zu essen, um 13.30 Uhr Abfahrt Shuttle Mama zur Kita, zwischendurch aufräumen, putzen, vor 16 Uhr noch schnell zur Bank, wieder zur Kita, die beiden trippeln schon am Straßenrand, einkaufen, Abendbrot, die Kinder beschäftigen, ins Bett bringen. Feierabend. So gegen 22 Uhr. Und fürs Einwohnermeldeamt hat es wieder nicht gereicht.

Ein frei erfundener Extremfall? Erfunden: ja. Aber ein Extremfall ist es nicht. Viele Menschen stehen heute unter Dauerstreß, wissen nicht, wie sie Beruf, Besorgungen und Freizeitaktivitäten unter einen Hut bringen sollen. Nicht unbedingt, weil sie sich zuviel vornehmen. Sondern weil sie in das Räderwerk unterschiedlicher Zeitsysteme geraten. Klingt esoterisch, ist es aber nicht.

„Die Zeiten richten sich in der Regel nach denjenigen, die sie anbieten“, erklärt Markus Menzel, Mitarbeiter im Weiterbildungsprogramm „Zeiten und Qualitäten der Stadt“an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). Die Post stellt Pakete um elf Uhr zu, nicht weil dann die Empfänger erreichbar wären, sondern weil es in den Schichtplan des Zustellers paßt. Bibliotheken schließen am frühen Freitagnachmittag – gerade dann, wenn die meisten Interessenten Zeit zum Stöbern haben. Ämter machen um 16 Uhr zu, weil der Acht-Stunden-Tag ihrer Beschäftigten vorbei ist – auch wenn diese Öffnungszeiten für den Rest der Bevölkerung denkbar ungünstig sind.

Dazu kommen weitere Rhythmen, die den Alltag einer Stadt bestimmen: die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel, die Öffnungszeiten von Geschäften, Arztpraxen und Banken, die Angebote von Kindertagesstätten. Und schließlich hat jedes Lebewesen seinen eigenen Rhythmus. Jeder Mensch hat seine innere Uhr, seine Zeiten, wann er in Hoch- und wann in Tiefform ist, in Abhängigkeit von Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreszyklen.

„Im Alltag der Menschen treffen die unterschiedlichen Zeitstrukturen aufeinander“, erklärt HWP-Mitarbeiter Menzel. „Und dabei werden die Brüche deutlich.“Wenn Beschäftigte einen halben Tag Urlaub nehmen müssen, um ihr Auto anzumelden. Wenn Büro-Angestellte außerhalb ihrer Arbeitszeiten keinen offenen Bankschalter mehr finden. Wenn berufstätige Mütter am Tag locker zehnmal durch die Stadt kurven, zwischen Wohnung, Arbeitsplatz, Schule, Tagesstätte und Supermarkt, um Arbeit, Haushalt und Kinder miteinander zu vereinbaren.

„Der Zeitstreß für Frauen ist größer“, weiß Liane Melzer, Mitarbeiterin des Hamburger Gleichstellungsamtes. Wissenschaftlich erstmals belegt durch das Modellprojekt ihrer Behörde, „Zeiten der Stadt“. „Die Zeitangebote“, nennt Melzer das grundsätzliche Problem, „sind in der Regel am Acht-Stunden-Tag der Männer ausgerichtet.“Es entstehen Öffnungszeiten, welche die Unterstützung durch einE PartnerIn voraussetzen – im Zeitalter der klassischen Kleinfamilie fast immer die Unterstützung durch die Frau. Hat sie auch noch die Rollen „Mutter“und „Beruf“, wird der Tanz zwischen den Öffnungszeiten besonders schlimm.

Zwischen den verschiedenen Zeitsystemen kommen aber auch immer mehr Männer ins Rotieren. Singles oder Männern berufstätiger Frauen nimmt keine Partnerin den Einkauf ab. Für Schichtarbeiter wird es schwer, einen gemeinsamen Abend mit Freunden zu verabreden. Und immer mehr Arbeitnehmer arbeiten nach komplizierten Arbeitszeitmodellen, bei denen kaum eine Woche abläuft wie die andere.

Diese Beschäftigten müssen ihre Freizeit planen wie die Weltmeister. Oder, wissenschaftlicher ausgedrückt: „Durch die Flexibilisierung der Arbeitszeit wird die Koordinationsleistung in den Privatbereich verlagert“, sagt Dietrich Henkel, Zeitexperte am Deutschen Institut für Urbanistik (difu).

Den Ausweg aus der Misere soll ausgerechnet mehr Flexibilisierung schaffen. Eine auf den ersten Blick absurde Vorstellung: mehr Flexibilisierung, um deren negative Folgen auszugleichen. Dennoch raten Zeitexperten dazu, die strengen gesellschaftlichen Zeitvorgaben aufzuweichen. Die einzelne BürgerIn hätte dadurch mehr Spielraum, um ihre verschiedenen Verpflichtungen zu koordinieren.

Einige Beispiele: Im Gebiet des Hamburger Modellprojekts, in Barmbek-Uhlenhorst, bieten mehrere Ärzte Sprechstunden auch an Samstagvormittagen an. Eine Sparkassen-Filiale hat montags bis freitags bis 18 Uhr geöffnet. Das Ortsamt vereinbart telefonisch Einzel-termine auch außerhalb der normalen Öffnungszeiten. Der Verein „Jung und Alt in Zuwendung“vermittelt Leih-Omas und -Opas.

Manche Verhandlungen mit Zeitanbietern, gesteht Liane Melzer aus dem Gleichstellungsamt, „haben länger gedauert als wir dachten“. Die angesprochenen Arzthelferinnen etwa freuten sich über längere Öffnungszeiten der Sparkassen-Filiale ebenso wie die Bankangestellten die Samstags-Termine beim Arzt begrüßten. Die eigenen Arbeitszeiten aber wollte kaum jemand ändern. „Die Chancen, die mit längeren Öffnungszeiten im eigenen Betrieb zusammenhängen – daß man zum Beispiel seine eigene Arbeit flexibler gestalten kann –, die werden zuerst einmal nicht so deutlich gesehen“, schildert Melzer eine häufige Erfahrung.

Vor allem die Gewerkschaften haben sich lange Zeit gegen die Ausweitung der Öffnungszeiten gestemmt. Für sie ist Zeitpolitik „ein heißes Thema“, meint Professor Ulrich Mückenberger, Arbeitsrechtler und Zeitexperte an der HWP. Als Beschäftigte möchten ihre Mitglieder feste, möglichst kurze Arbeitszeiten, als Kunden verlangen sie den langen Samstag. „Die Gewerkschaften haben mit dem Zeitthema getan, was sie immer mit heißen Themen tun: ignorieren, aussitzen“, schimpft Mückenberger. „Gleitzeit, Teilzeit, variable Arbeitszeiten, Behördenzeiten, zuletzt Ladenschluß – statt in die Gestaltungsoffensive zu gehen, verharren sie immer erst in Bunker- und Glaubenskrieghaltung, bis die Dinge (und die Menschen) über sie hinweggerollt waren und sie sich auf der Verliererseite wiederfanden“, schrieb Mückenberger noch vor einem Jahr in einer Gewerkschafts-Zeitschrift. Aber mittlerweile, versichern Hamburger Zeit-expertInnen, bewegen sie sich doch.

„Es gibt bei den Gewerkschaften ein große Bereitschaft, die Flexibilisierung zu unterstützen“, betont Liane Melzer. Und Andrea Brückmann, Mitarbeiterin des Weiterbildungsprojekts „Zeiten und Qualitäten der Stadt“an der HWP bestätigt: „Vor allem die oberen Ebenen in den Gewerkschaften unterstützen die Idee. Sie haben durch ihre Blockadehaltung bislang die Chance verpaßt, die Entwicklung mitzubestimmen. Es ist offensichtlich, daß das ein Fehler war.“

Informationen gibt das Projektbüro des HWP-Weiterbildungsprogramms „Zeiten und Qualitäten der Stadt“, Von-Melle-Park 9, 20146 Hamburg, Tel. 040/41 23-36 19.

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