Das Heil im Hier und Jetzt

■ Die Freizeitindustrie ein Feld für Sinnsuche und damit Konkurrenz für die Kirchen? Jedenfalls sollten die Kirchen zunächst einmal erkennen, was die Gesellschaft umtreibt, meint Dr. Wolfgang Isenberg von der Thom

taz: Warum beschäftigt sich die katholische Thomas-Morus-Akademie schon seit Jahren ausgiebig mit touristischen und freizeitpolitischen Themen?

Dr. Wolfgang Isenberg: Im Tourismus, im Freizeitbereich artikulieren sich Lebensentwürfe und Sehnsüchte von Menschen, ihr Bemühen um Glück. Und da muß sich eigentlich eine kirchliche Institution mit den Rahmenbedingungen beschäftigen ...

Seit wann kümmert sich die Kirche um das irdische Glück statt um das Seelenheil für das Jenseits?

Ich will nicht den Unterschied zwischen Glück und Seelenheil diskutieren. Das Seelenheil spricht stärker das Transzendente an. Nur Glückserwartungen haben doch sehr viel mit der augenblicklichen Befindlichkeit von Menschen zu tun. Und diese muß sehr wohl im Blickfeld der Kirchen liegen.

Der österreichische Tourismusfachmann Alois Schöpf behauptet, der sogenannte Event der Freizeitindustrie sei vom katholischen Hochamt abgeleitet worden ...

...das kann man formal so sehen. Es gibt Beobachter, die die Inszenierungen der Wallfahrten in Lourdes mit Disneyland vergleichen. Nicht in bezug auf die Inhalte, sondern auf der Ebene der Ritualisierung. Oder nehmen Sie das Beispiel Musicals. In der Musical-Inszenierung tauchen Elemente bei den Stilmitteln, der Emotionalität auf, die auch in kirchlichen Hochämtern eine Rolle spielen.

Ist die moderne Freizeitindustrie Konkurrenz für die leerer werdenden Kirchen?

Der moderne Tourismus greift mit seinen Verheißungen die Bedürfnisse der Menschen auf. Von daher ist eine konkurrierende Situation für die Kirchen gegeben. Das Angebot eines Lebens in Fülle, wie es die Freizeitindustrie anbietet, bedeutet ja letztendlich, daß Erwartungen, die früher auf das Jenseits übertragen worden sind, aktuell erlebt werden. Heilserwartungen können direkt in Angriff genommen und umgesetzt werden. Im Augenblick wird ja Tourismus auch als neue Sinnerfahrung gehandelt, und wenn das so ist, werden natürlich die Anbieter in diesem Sinne noch stärkere Konkurrenz zum kirchlichen Bereich. Und da sehe ich schon eine grundsätzliche Herausforderung.

Also: die Kirche als moderner Anbieter?

Die Kirche muß sich stärker damit auseinandersetzen. Das ist im Moment ja nicht neu. Wenn Sie beispielsweise die Aufmacher von Spiegel oder Focus vor einer Woche betrachten: Dort wird auch thematisiert, daß religiöse Bedürfnisse, die in der Gesellschaft vorhanden sind, nicht mehr durch die Kirchen abgedeckt werden. Das ist schon eine sehr große Herausforderung für die Kirchen. Die Thomas-Morus-Akademie steht bei der Auseinandersetzung mit Tourismus- und Freizeitthemen und dem, was darin an Hintergrundthemen aufscheint, allerdings ziemlich allein da. Die Botschaften und Anfragen, die sich hinter den zum Teil extremen Äußerungen der Freizeitgesellschaft verstecken, werden nicht wahrgenommen und ausreichend analysiert. Das finde ich ziemlich problematisch.

Was meinen Sie genau mit Anfragen?

Zum Beispiel, wenn so viele Menschen Musicals besuchen, hat das doch unter anderem damit zu tun, daß eine gewisse Emotionalität und Sehnsucht zum Ausdruck kommt. Wenn es stimmt, daß Musicals eine pseudoreligöse Dimension beinhalten, so ist dies eine Anfrage an die Kirche.

Das heißt, die Freizeitindustrie vermarktet das Sakrale von heute. Aber die Kirche war doch nie allein die rituelle Verwalterin des Glücks, sondern vor allem auch des Leidens.

Ihre Aufgabe ist es auch, Fragwürdigkeiten von Glücksparolen durchschaubar zum machen. Zum Glück gehört das Leiden. In den kirchlichen Diskussionen zum Thema Glück ist dies nie ausgeschlossen ...

...aber in den touristischen.

Im touristischen Glück ist das Leiden ausgeschlossen. Das ist einseitig. Und die gesamte Werbestrategie im Freizeitbereich läuft ja darauf hinaus, daß man eigentlich immer glücklich sein muß. Und das ist natürlich der Unterschied zur kirchlichen Botschaft: daß Leiden genauso zum menschlichen Erleben dazugehört wie die Glückserfahrung. Im Tourismus steht Glück im Ruf, planbar, machbar und finanzierbar zu sein. Bei Sinnkrisen ist dann wieder die Kirche gefragt.

Die Kirche als Auffangbecken des Elends, während der Tourismus am Glück verdient?

Das könnte natürlich letztendlich so sein.

Wie sehen Sie diese Sinnsuche unter dem Vorzeichen des Konsums?

Es ist die Aufgabe von Kirche, diese permanente Konsumrausch- Spirale deutlich zu machen. Bei dem Themenkomplex Tourismus muß die Kirche sich generell mit Konsum kritisch auseinandersetzen. Auch mit der Frage nach dem Konsum als Religionsersatz.

Ist der moderne Tourismus Sinnsuche im Sonderangebot?

Der moderne Tourismus ist schon eine Fast-food-Sinnsuche.

Der Tourismus, wird behauptet, fange althergebrachte Rituale der Gesellschaft auf. Ist das nicht eine Bedrohung für die Kirchen?

Die Rituale wandern aus. Das ist eine Bedrohung. Aber die Frage ist doch: Was macht die Kirche damit? Man muß diese Bedrohung ja erst einmal sehen, und da habe ich den Eindruck, daß die Kirche dies nicht ausreichend tut. Sie solllte zur Kenntnis nehmen, was im gesellschaftlichen Bereich an neuen Ritualen entsteht, und sie sollte sich stärker damit beschäftigen, was die moderne Gesellschaft eigentlich umtreibt.

Ist Inszenierung im Tourismus lediglich ein Verkaufsargument?

Das hat was damit zu tun, daß Sie Erfahrungen verdichten müssen, um sie Ihren Reisenden anzubieten. Die Inszenierung hat dabei die Aufgabe, die Kunden zu überzeugen. Insofern glaube ich schon, daß es ein Verkaufsargument ist. Das, was im Tourismus passiert, ist ja nicht die reine Menschenfreundlichkeit, sondern ein hartes ökonomisches Geschäft.

War die Pilgerreise auch eine Inszenierung?

Zur Pilgerreise gehörte das Unterwegssein. Sie hatte zwar das Ziel, dem Seelenheil ein Stück näher zu kommen, aber die Welterfahrung, die damit zusammenhing, war doch umfangreicher. Das, was dort angeboten wurde, hat sicherlich unbewußt einiges mit Inszenierung im heutigen Verständnis zu tun. Man stellte bestimmte Erfahrungsfelder zur Verfügung, in denen sich die Menschen aufgehoben fühlten.

Was bedeutet für die Kirche der Esoterikboom im Freizeitbereich?

Profitieren von dieser Welle mögen beispielsweise Klöster, die meditative Angebote bereithalten, aber insgesamt partizipiert der kirchliche Bereich an diesem Trend nicht. Interview: Edith Kresta

Dr. Wolfgang Isenberg ist Leiter der Thomas-Morus-Akademie in Bensberg. Seit Jahren arbeitet die Akademie zu touristischen und freizeitpolitischen Themen. Vom 3. bis 4. Februar findet die Tagung „Musicals und urbane Entertainmentkonzepte“ in Stuttgart statt: Thomas-Morus-Akademie, Overather Straße 51–53, 51429 Bergisch Gladbach, Tel. (02204) 408472, Fax (02204) 408420