: Drei Exknackis für Haftvermeidung
Nichtdeutschen Straffälligen droht oft die Abschiebung in ein „Heimatland“, das sie nicht kennen. Zusammen mit dem „Kölner Appell“ kümmert sich der ehemalige RAF-Terrorist Jünschke um die jungen Häftlinge ■ Von Wolfgang Gast
Köln (taz) – Für Samir ist die Sache klar: „Die wissen gar nicht, wie sie da wieder einmal rauskommen sollen“. Die – das sind viele seiner Altersgenossen, die in der Justizvollzugsanstalt Köln einsitzen. Drei Jahre lang gehörte auch Samir dazu, der junge Tunesier. Vor wenigen Wochen wurde er entlassen. Zu seinem Glück kam die Einbürgerung vor der Verhaftung. Ohne deutschen Paß wäre es Samir wie vielen anderen ergangen.
Rund 1.300 Knackis sind in der Haftanstalt im Stadtteil Ossendorf eingesperrt, darunter 180 Jugendliche. Drei Viertel von ihnen sind in der Bundesrepublik lebende Nichtdeutsche. Ist die Strafe abgesessen, droht ihnen die Abschiebung. Meistens in ein für sie unbekanntes „Heimatland“.
Mustafa ist so ein Fall. Der berberische Marokkaner, in Deutschland geboren und aufgewachsen, spricht fließend Deutsch. Rheinisches Platt, kein Arabisch, kein Französisch, nur einige Brocken Berberdialekt. Wegen nicht sonderlich schwerer Diebstähle wird eine Jugendstrafe von acht Monaten gegen ihn verhängt. Das Ausländeramt verfügt daraufhin Ausweisung und Abschiebung. Er soll nach Marokko, in ein Land, das er nicht kennt und in dem ihn niemand kennt. Mustafa wehrt sich – erfolglos. Im November 1993 wird er mit 1,75 Mark in der Tasche nach Marokko abgeschoben.
Mustafa ist kein Einzelfall. Zwölf ähnliche Vorgänge hat der evangelische Seelsorger Eberhard Bornemann für die Jahre von 1993 bis 1996 allein in der Justizvollzugsanstalt Siegburg aufgelistet. Sie sind dokumentiert in einem 400 Seiten dicken Buch. Herausgegeben hat es der „Kölner Appell“, eine Einrichtung, die sich um das Schicksal der jungen straffällig gewordenen Menschen zwischen den Kulturen kümmert. Unter dem Titel „Jugendkriminalität – gegen die Kriminalisierung von Jugendlichen“ dokumentiert es die triste Situation „ausländischer“ Jugendlicher, die in Wahrheit Deutsche sind. Deswegen sind für Samir Menschen wie Hüseyin Aktülün, Klaus Jünschke oder Ugur Tekin so wichtig. Die drei haben vor zwei Jahren zusammen mit dem Kölner Appell ein „Haftvermeidungsprojekt“ ins Leben gerufen.
Jugendliche, ob Kinder von MigrantInnen, Flüchtlingen oder Deutschen, „gehören überhaupt nicht ins Gefängnis“, sagt Klaus Jünschke. Er und seine Kollegen sind ein illustrer Kreis: Der 50jährige Jünschke saß bis zu seiner Begnadigung 16 Jahre wegen Mitgliedschaft in der RAF. Aktülün war als Kurde in der Türkei 17 Jahre inhaftiert. Adnan Keskin, der heute die Öffentlichkeitsarbeit beim Kölner Appell koordiniert, ist in der Türkei zum Tode verurteilt worden. Nach sieben Jahren Haft gelang ihm die Flucht.
Gegen destruktive kriminelle Karrieren
Die drei wehren sich, mit ihren Biographien in den Vordergrund geschoben zu werden. Die unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Hintergründe haben zu einer ungewöhnlichen Form zusammengefunden: klassische politische Bildungs- und Aufklärungsarbeit, das Organisieren von Demonstrationen oder Veranstaltungen auf der einen Seite; auf der anderen ganz konkrete Aktionen im Stadtteil, Hilfen dazu, „nicht in eine destruktive kriminelle Karriere zu fallen“.
Unter Haftvermeidung verstehen die drei die Bemühungen, daß jemand erst gar nicht inhaftiert wird. Und, wenn dies doch geschieht, pragmatisch Hilfe zu leisten. Das Projekt reicht von Initiativen mit dem Ziel einer Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters bis zu einem konkreten „Gesprächskreis gegen Rassismus“ in der Kölner Haftanstalt; von der Mitarbeit im Beirat der JVA bis zu Spendenaktionen, um Gefangenen das Leben zu erleichtern.
Der Kölner Appell wurde 1983 als Initiative gegründet, die dafür eintrat, „daß alle Menschen, die in der Bundesrepublik ihren Lebensmittelpunkt haben, die gleichen Rechte haben sollen“. An die 30.000 unterschrieben damals in Köln einen Aufruf, der zum entschiedenen Widerstand gegen eine Ausländerpolitik aufrief, „die jetzt ausländische Mitbürger unter Verletzung von Menschenrechten und unserer einfachsten Regeln des Anstandes als konjunkturelle Manipuliermasse verschieben will“. Das war noch vor der Änderung des Asylparagraphen im Grundgesetz.
14 Jahre später beschäftigt der Kölner Appell ein halbes Dutzend Mitarbeiter, Frauen und Männer, Nichtdeutsche und Deutsche, deren Finanzierung alljährlich auf dem Spiel steht. 1.000 Mark schießt das interkulturelle Referat der Stadt Köln im Monat zu, doppelt soviel muß der Verein selber erwirtschaften. Mit 37.000 Mark wird das „Projekt Haftvermeidung“ mit Mitteln der Europäischen Union gefördert.
Der Wochenplan ist voll. Regelmäßige Termine sind die Hausaufgabenhilfen, Deutschkurse, Asyl- und Sozialberatung. An die 30 Ehrenamtliche, die meisten StudentInnen, arbeiten für den Verein, der im Oktober letzten Jahres für seinen Einsatz gegen Rassismus mit dem „Rheinlandtaler“ des Landschaftsverbandes Rheinland ausgezeichnet wurde.
Der ausgezeichnete Einsatz ist auch einer gegen die herrschende Kriminalpolitik, in der „null Toleranz“ oder die konsequente Abschiebung krimineller Ausländer gefordert wird. Die Mitarbeiter des Kölner Appells halten dagegen: „Kriminalitätsursachen lassen sich nicht abschieben.“ Andernorts, etwa in Schweden und in Dänemark, habe man zum Beispiel die Jugendknäste nicht ausgebaut, sondern abgeschafft. Abwegig ist das nicht. Selbst der Kölner Anstaltsleiter, Jörn Foegen, hat erklärt: „Wenn wir eine Drogenpolitik hätten, in der die Drogenabhängigen nicht als Kriminelle, sondern als Kranke wahrgenommen würden, könnte ich ein Drittel aller Zellen in der JVA Ossendorf schließen.“
Samir hat sich von den Bemühungen der drei Haftvermeider vom Kölner Appell anstecken lassen. Seit er aus dem „Klingelpütz“ genannten Knast entlassen wurde, hält er Kontakt zu Angehörigen anderer Inhaftierter, besucht er regelmäßig die früheren Kollegen. Samir kennt den Gesprächskreis gegen Rassismus aus eigener Erfahrung. Abschiebung und Ausländerfeindlichkeit sind natürlich Thema bei den Treffen, aber mitunter besorgen die Gesprächspartner von außen auch schon einmal auf Wunsch der Jugendlichen einen Rambo-Film aus einer örtlichen Videothek. So ist es wohl auch kein Wunder, wenn Samir sagt: „Wer den Klaus nicht kennt, der hat in Köln gepennt.“
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