: „Ich war vor Schock wie gelähmt“
■ Tagebuchprozeß: Staatsanwalt fordert dreieinhalb Jahre Haft wegen Vergewaltigung
„Ich war vor Schock wie gelähmt. Mich überkam Ekel, und ich mußte fürchterlich anfangen zu heulen.“Diesen Sätzen voraus geht die Schilderung von Annika, wie ihr Stiefvater sie sexuell mißbraucht habe. Detailliert beschreibt die Schülerin die sexuelle Gewalt – zunächst 1989 in ihrem Tagebuch, Jahre später in einem Brief an ihren Freund. Die persönlichen Aufzeichnungen sind zur Anklageschrift geworden. Gestern befand der Oberstaatsanwalt am Hamburger Landgericht, Jürgen Detken, sie seien authentisch und forderte eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren für Hans-Joachim L. wegen Vergewaltigung und sexuellem Mißbrauch.
Annika selbst konnte zu den Vorwürfen nicht mehr gehört werden. Sie starb Ende 1993 im Alter von 16 Jahren an Bulimie. Nach ihrem Tod fand die Mutter die Tagebücher und zeigte ihren Ex-Mann an. Damit habe sie „das Vermächtnis auf den Weg gebracht, zu dem ihre Tochter nicht mehr die Kraft gehabt habe“, sagte gestern Kathrin Schulz, die als Nebenklägerin auftritt.
Die Verteidiger von Hans-Joachim L. plädierten hingegen auf Freispruch für den angesehenen großbürgerlichen Kaufmann. „Ein Mißbrauch hat nie stattgefunden“, gaben sie sich überzeugt. Annika erklärten sie schlicht für verrückt. Sie habe eine „Tendenz zum chronischen Lügen und Manipulieren anderer Menschen“, diagnostizierten sie. Posthum wollen sie erkannt haben, daß mehrere PsychologInnen, die Annika behandelten, und auch der Gerichtsgutachter, der die Tagebücher für glaubwürdig erklärte, „dem Mädchen auf den Leim gegangen“seien.
All das leiten sie aus einem Widerspruch in Annikas Schilderungen ab. In dem Brief an ihren Freund, den sie rund drei Jahre nach ihren Erlebnissen schrieb, hatte sie mitgeteilt, eine Tat sei am 3. November 1989 passiert. Während der laufenden Hauptverhandlung brachte dann eine Freundin von Annika deren Tagebuch mit, das diesen Zeitraum umfaßt und seither bei der Freundin gelegen hatte. Daraus geht hervor, daß Annika an jenem Tag im November gar nicht zuhause war.
Für die Anwälte ist das der schlagende Beweis: „Wir haben Annika beim Lügen ertappt.“Der Gerichtsgutachter hingegen hatte nur von einem Irrtum im Datum gesprochen und betont: „Annika hat deliktstypische Details und eigene Reaktionen beschreiben können. Das geht auf reale Wahrnehmungen zurück.“Und Rechtsanwältin Schulz erinnerte daran, daß Annika den Brief Jahre nach dem Vorfall schrieb.
Obwohl die Mutter mit ihrer Strafanzeige den Prozeß ins Rollen brachte, bemühten die Verteidiger von Hans-Joachim L. sie als Zeugin gegen die Glaubwürdigkeit von Annika. Sie nämlich habe ja ihrer Tochter nicht geglaubt, als die ihr seinerzeit als 13jährige den Mißbrauch anvertraute. Dabei „hat sie Annika besser gekannt als jeder andere“. Wenn es schon die eigene Mutter nicht glaubt, kann es wohl kaum stimmen. Damit blendeten sie allerdings aus, worauf der Staatsanwalt zuvor aufmerksam gemacht hatte: Gerade diese Umstände machen den Fall Annika zu einem ganz klassischen Mißbrauchsfall. Der Täter gehörte zum unmittelbaren Nahfeld, und die Mutter wollte nicht wahrhaben, daß so etwas Schlimmes in ihrer Familie passierte. Elke Spanner
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen