: Der Spagat des Dinosauriers
■ Mit schwankender Kamera: „Der verkaufte Schatten“, eine Elegiensammlung von Werner Dürrson
Elegie. Ein Wort, eine Gattungsbezeichnung, die nach Rilke und Mörike schmeckt, nach Schwermut und Melancholie. Ein lyrischer Dinosaurier. Werner Dürrson bedient sich dieser Gedichtform in der Elegiensammlung Der verkaufte Schatten, die im Hamburger ROSPO-Verlag erschienen ist, und leistet einen erstaunlichen Spagat: Schnelle, harte Momentaufnahmen aus dem postsozialistischen Rumänien gießt der Autor in klassische Blankverse, wie man sie aus den Dramen Shakespeares kennt.
Wie von einer schwankenden Kamera aufgenommen, bewegen sich Dürrsons Bilder durch das sommerliche Bukarest, das aus jahrzehntelanger Erstarrung erwacht. Der Leser darf durch die Fenster der Stadtvillen schauen und lernt schnell, daß die Demokratie am Schwarzen Meer nicht nur Befreiung gebracht hat. Bukarest ist eine Stadt, „die sich selbst nicht mehr mag“, in der Camel und Coke, Aids und Porsche keinen Zweifel darüber lassen, daß das ehemalige Paris des Balkans nur noch ein Überschwemmungsgebiet westlicher Konsumkultur ist.
Obwohl Werner Dürrsons Elegien sich aus einem Rumänienbesuch im Juni 1992 nähren, beschreibt der Autor die unwirtliche Metropole als Winterstadt. Menschen mit leerem Blick, Häuser und Straßen, denen etwas Verwunschenes anhaftet, und als Leser folgt man nur widerwillig in die Hotelfoyers, in denen einem der sozialistische Plüsch am Rücken kleben bleibt.
Doch Werner Dürrson kann auch anders. In seiner zweiten Elegie rückt die „Kopftuch-Diaspora“des Landvolkes vor den Toren der Stadt ins Visier. Üppige Naturbeschreibungen wirken so irreal wie in übercolorierten Filmen aus den 60ern. Die Technik des Autors ist hier, wie im urbanen Bukarest, die gleiche. Dürrson hält einfach die Kamera an, und so entstehen beeindruckende Skizzen einer Landschaft, deren Ohnmacht erst der zweite Blick verrät. Der verrottete Kombinatstrecker zerfällt in Einzelteile, und ein Hund blickt apathisch aus dem Bild.
Der verkaufte Schatten will aber mehr sein als ein Gedichtband, und das ist er auch. Als der Autor nach dem Ende seiner Rumänienreise im Sommer 1992 die Elegien schreiben wollte, gelang ihm dies zuerst nicht: „Ich schrieb mich fest, erlag dem Ballast“, erklärt Dürrson seinen Lesern. Um trotzdem voranzukommen, schrieb der 65jährige Autor aus dem Schwarzwald zunächst seinen Reisebericht als Tagebuch nieder.
Diese deteillierte Beschreibung findet der Leser im zweiten Teil des Verkauften Schatten, und der Effekt ist gelungen. Thema für Thema, Bild für Bild kann man sehen, wie der Autor seine Eindrücke in Verse umgeformt hat. Man schaut dem Dichter bei der Arbeit zu.
Zusammengefügt ergeben beide Teile des Buches das expressionistische Gemälde eines Landes, daß zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Alt und Neu erstarrt, zu einem Schatten seiner selbst geworden ist.
York Pijahn
„Der verkaufte Schatten“von Werner Dürrson, ROSPO-Verlag, Hamburg: 1997, 64 Seiten, 39 Mark
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