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Tagebücher reichten nicht für Urteil

■ Mißbrauchtes Mädchen starb an Bulimie. Seine Aufzeichnungen im Tagebuch standen im Prozeß gegen das Leugnen des Stiefvaters

Ihre liebste Freundin, das Tagebuch, durfte nicht für sie sprechen. Zwar verriet Annikas Tagebuch die Wahrheit, davon zeigte sich das Hamburger Landgericht gestern überzeugt: Ihr Stiefvater habe zwischen 1989 und 1990 zweifelsfrei die damals Dreizehnjährige sexuell mißbraucht. Dennoch sprach die Jugendschutzkammer den Kaufmann Hans-Joachim L. frei. „Zur Beweisführung für die einzelnen Taten hat es jedoch nicht gereicht.“ Denn das Gericht konnte sich ausschließlich auf Annikas Tagebuch und Briefe an einen Freund stützen. Sie selbst konnte nicht erzählen, was sie mit ihrem Stiefvater erlebte. Annika starb mit 16 Jahren an der Eß- und Brechsucht Bulimie.

Schon 1990 hatte Annika sich zunächst einer Freundin, später ihrer Mutter anvertraut. Diese glaubte der Tochter zunächst nicht. Doch nach Annikas Tod fand sie die Tagebücher ihrer Tochter und zeigte ihren Exmann an. Der Kaufmann Hans-Joachim L. bestritt die Taten vor Gericht. Mit diesen „schweinischen und brutalen Geschichten“ wolle er nichts zu tun haben. So stand seine Aussage gegen das, was das Tagebuch und Briefe offenbarten.

Die Verwertbarkeit von Tagebüchern als Beweismittel ist vom Bundesgerichtshof bislang nur unter dem Aspekt behandelt worden, daß sich aus dem Tagebuch eines mutmaßlichen Täters selbst eine Belastung ergab. Einen Fall wie den von Annika gab es hingegen noch nie. Die Authentizität ihres Tagebuchs zu beurteilen, war Sache von ExpertInnen. Daß sie Märchen enthalten, sollte ein Gutachter bekräftigen, den die Verteidigung des Vaters beauftragt hatte. Zu einem anderen Ergebnis kam Professor Hermann Wegener von der Kieler Universität, der für das Gericht eine Expertise fertigte. Annika, so sein Resümee, habe nicht phantasiert, sondern erlebt.

Dem schloß sich auch das Landgericht gestern an. Die Angst Annikas vor ihrem Stiefvater sei auch für Außenstehende unverkennbar gewesen. Zudem habe sie „eindrucksvoll schrecklich und detailhaft“ einzelne Erlebnisse beschreiben können. Und es gebe keinen Anlaß zu behaupten, Annika sei eine chronische Lügnerin gewesen, wie die Verteidiger von Hans-Joachim L. ihr posthum diagnostiziert hatten. Nicht einzugrenzen sei jedoch gewesen, wann genau was geschah. Einmal fehlte eine Datumsangabe ganz, ein anderes Mal konnte der in einem Brief angegebene Zeitpunkt nicht stimmen, weil Annika an besagtem Tag gar nicht zu Hause gewesen war. Die Anwältin der Mutter, die als Nebenklägerin am Prozeß teilnahm, hatte betont, daß Annika den Brief erst drei Jahre nach dem Vorfall geschrieben hatte. Auch der Gerichtssachverständige hatte von einem reinen Irrtum gesprochen. Das Landgericht bilanzierte dennoch einen „unsicheren Boden in der Beweisführung“. Sich allein auf die Tagebücher und Briefe zu stützen, hatte sich keiner der Prozeßbeteiligten getraut. Auch der Oberstaatsanwalt hatte nur die Taten für erwiesen angesehen, die Annika auch FreundInnen gegenüber im persönlichen Gespräch angedeutet hatte. Von den ursprünglich elf Anklagepunkten waren somit für ihn nur zwei übriggeblieben. Für diese hatte er eine Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis wegen Vergewaltigung und sexuellem Mißbrauch gefordert. Die Mutter von Annika wird gegen das Urteil voraussichtlich kein Rechtsmittel einlegen. Denn „daß der Stiefvater Annika mißbraucht hat, kann auch ein anderes Gericht nicht noch deutlicher sagen“, begründete Nebenklageanwältin Kathrin Schulz. Der Vorsitzende Richter hatte erklärt, der Angeklagte verlasse den Gerichtssaal trotz des Freispruchs „nicht ohne Makel“. Elke Spanner

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