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Klappe halten oder Wegsperren

Das Oberlandesgericht Köln urteilt: Geräusche von Schwerstbehinderten sind „auf Dauer unerträglich“ und müssen nicht „schrankenlos geduldet“ werden  ■ Aus Köln Walter Jakobs

Anwohner von geistig behinderten Menschen müssen deren Kommunikation im Nachbargarten nicht uneingeschränkt hinnehmen. Das hat gestern das Kölner Oberlandesgericht (OLG) entschieden. Das Gericht gab damit der Klage eines Musiklehrers statt, der sich über den Lärmpegel auf seinem von sieben Behinderten bewohnten Nachbargrundstück beschwert hatte. Das in Kreuzau- Stockheim gelegene normale Wohnhaus wird vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) betrieben. In der betreuten Wohngruppe leben Menschen, die zuvor in heilpädogogischen Großeinrichtungen untergebracht waren. Der LVR betreibt über 100 solcher Wohngruppen, deren Ziel es ist, die Lebensverhältnisse dieser Menschen zu „normalisieren“.

Das Landgericht Aachen hatte in erster Instanz die Lärmbelästigung verneint und die Klage abgewiesen. Genau gegenteilig urteilte jetzt das OLG. Die auf das Grundstück des Musiklehrers gelangten Geräusche seien „in der massiven Form für den Kläger unzumutbar. Maßgebend ist dabei nicht so sehr die Lautstärke, als vielmehr die Art der Geräusche“, sagte der Vorsitzende Richter des 7. Zivilsenats in der mündlichen Urteilsbegründung. Die Geräuschkulisse weiche „völlig ab von dem, was im üblichen nachbarschaftlichen Nebeneinander gelebt“ werde und wirke deshalb „außerordentlich belastend“. Auf Dauer sei das auch Behinderten gegenüber „aufgeschlossene“ Menschen „unerträglich“. Da die Behinderten selbst nicht in der Lage seien, „von sich aus solche Störungen des Nachbarn zu unterlassen“, seien im Rahmen des „Interessenausgleichs“ gewisse Ruhezeiten einzuhalten. Entsprechend dieser Richtlinie wurde dem LVR in dem rechtskräftigen Urteil für die Zeit zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober auferlegt, an Sonn- und Feiertagen ab 12.30 Uhr im Garten für Ruhe zu sorgen. Samstags und mittwochs müssen die Behinderten ab 15.30 Uhr ins Haus. An den übrigen Tagen haben die sieben in dem Haus untergebrachten Männer ab 18.30 Uhr ruhig zu sein.

LVR-Direktor Ferdinand Esser zeigte sich gestern von dem „behindertenfeindlichen Urteil erschüttert“. Der LVR prüfe, ob „der Gang zum Bundesverfassungsgericht möglich ist“. Esser sieht in dem Urteil „einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes“. Der LVR werde weiter einen Weg der „Integration statt Ausgrenzung“ gehen, weil das Leben in der Gemeinschaft die Fähigkeiten und Lebensfreude der Behinderten stärke. Die Klage sei der absolute Ausnahmefall. Ansonsten seien die über 100 ortsnahen Wohngruppen „fast überall“ auf Verständnis gestoßen.

Scharf zurückgewiesen wurde das Urteil auch aus Kreisen von Selbsthilfeorganisationen. Die Kölner Richter knüpften damit an ein Urteil aus Flensburg an, das Urlaubern Schadenersatzansprüche zugebilligt hatte, weil die sich im Urlaub von Behinderten gestört sahen. Solche Rechtsprechung wecke Erinnerungen an eine längst überholt geglaubte Epoche, hieß es.

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