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„Fehler auf allen Seiten“

Wie Debakel bei Verfahren um Kindesmißbrauch vermieden werden können. Das Gespräch mit der Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller führte  ■ Barbara Debus

Die Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller hat als Nebenklagevertreterin an den „Wormser Prozessen“ teilgenommen. Sie schiebt in Vorträgen und Fortbildungen die selbstkritische Debatte unter Frauen über derartige „Massenbeschuldigungsverfahren“ an.

taz: In den letzten Jahren gab es drei Großverfahren zu sexuellem Kindesmißbrauch, zuletzt die in Worms, an denen Sie selbst beteiligt waren. Wie haben diese medienwirksamen Prozesse das politische Klima in der Bundesrepublik verändert?

Claudia Burgsmüller: Bei den Professionellen in Jugendämtern und Beratungsstellen haben diese Verfahren zu einer erheblichen Verunsicherung geführt. RechtspolitikerInnen sehen sich wegen einer öffentlichen Empörung über die Freisprüche in Zugzwang. Sie liefern jedoch nur Stückwerk von rechtlichen „Reformen“ – wie zum Beispiel die Einführung der Videovernehmung in die Hauptverhandlung, die nächste Woche im Bonner Vermittlungsausschuß behandelt wird.

Wie erklären Sie sich die oft hysterischen Reaktionen beim Thema sexueller Mißbrauch?

Vermeiden Sie doch bitte den Begriff hysterisch in diesem Zusammenhang. Ich nehme eher hilflose Empörung war, oft kritiklose Parteinahme entweder für die „armen Kinder“ oder für die „unschuldig Verfolgten“.

Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle im Prozeß selbstkritisch im Rückblick?

Bei drei Kindern im Alter von acht bis zwölf Jahren, deren Eltern Beschuldigte in den „Wormser Verfahren“ waren, beauftragte mich das Jugendamt, diesen Kindern zur Seite zu stehen – als Nebenklagevertreterin. Zwei der Kinder lebten damals schon im Heim, eines bei seinem nichtbeschuldigten Vater. Als ich das Mandat übernahm, hatten Kripo und Staatsanwaltschaft schon neun Monate ermittelt. Ich erwartete natürlich nicht, daß sich bis dahin schon so viele skandalöse Ermittlungsfehler ereignet hatten. Auch hatte ich weder die zeitlichen noch die finanziellen Möglichkeiten, mich vor Beginn der Hauptverhandlung zwei Wochen zurückzuziehen und die Akten zu studieren. Selbstkritisch muß ich sagen, daß es eine Weile dauerte, ehe mir klar wurde, daß sich dieser Prozeß gehörig von den gut vorbereiteten Mißbrauchsprozessen unterschied, die ich ansonsten führe.

Hätten Sie auch freigesprochen?

Wenn ich jetzt noch einmal am Beginn der „Wormser Verfahren“ stünde, würde ich ganz klar verhindern, daß auch nur eines der von mir vertretenen Kinder in der Hauptverhandlung aussagt. Nicht weil kein Mißbrauch stattgefunden hätte, sondern weil er aufgrund zahlreicher Kunstfehler der an den Ermittlungen Beteiligten nicht mehr nachweisbar war. Aber ganz klar: Auch ich hätte als Richterin in den „Wormser Verfahren“ viele der Angeklagten, jedoch nicht alle, freigesprochen.

Auf einer Veranstaltung in Berlin sagten Sie, dieser Prozeß habe Sie „traumatisiert“. Wieso?

Ich selbst saß zwischen allen Stühlen, da ich davon ausging, daß Mißbrauch zwar stattgefunden hatte, aber nicht in der von der Staatsanwaltschaft aufgebauschten Gesamtkonstruktion eines Kinderpornorings. Die gesamte Öffentlichkeit stand jedoch auf seiten der angeblich völlig unschuldigen Angeklagten, allen voran der Spiegel. Eine Gegenöffentlichkeit gab es faktisch nicht.

In der öffentlichen Diskussion gibt es nur einen Sündenbock für das Debakel von Worms: alle freien Beratungsorganisationen, die sich der Frauenbewegung zuordnen lassen – wie „Wildwasser“ und „Zartbitter“. Warum?

Es ist doch ganz einfach, sich auf den schwächsten Teil zu stürzen. Und „Wildwasser Worms“ war ganz klar der schwächste Teil unter den Professionellen – und hat sich außerdem, wie ich meine, völlig falsch verhalten. Die verantwortliche Beraterin, Frau P., war überfordert und hat sich von der Staatsanwaltschaft zur Produktion von Kinderaussagen benutzen lassen. Zudem hat sie die Kinder mit zu sich nach Hause genommen, sie hat Privatbereich und Kinderschutzbereich völlig durcheinandergemengt.

Würden Sie die Kritik an „Wildwasser Worms“ auf eine Person reduzieren?

Nein, das ganze Team ist selbst dem Vorwurf „Mißbrauch des Mißbrauchs“ aufgesessen, indem sie sich von dieser Mitarbeiterin P. öffentlich distanziert haben und sich nicht mit den unbestreitbar vorliegenden Kunstfehlern aller Beteiligten öffentlich auseinandergesetzt haben. Das Schlimmste ist, daß sie sich keiner Diskussion stellen. Sie haben bisher alle Einladungen ausgeschlagen.

Ist „Wildwasser“ kein geschützter Begriff?

Jede Beratungsstelle darf sich so nennen, auch wenn sie nicht aus der Frauenbewegung stammt und völlig anders arbeitet, als die erste Wildwasser-Gründung in Berlin. „Wildwasser Worms“ zum Beispiel wurde als Kinderschutzdienst des Landes Rheinland-Pfalz eingerichtet, hat dort Landesgelder erhalten und unterstand der Aufsicht des Landesjugendamtes Mainz.

Welche Lehren ziehen Sie aus dem Debakel der Großverfahren?

Ich plädiere für eine klare Trennung der Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen für Kinder von der Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Es geht nicht an, die Eltern zu verhaften, die Kinder im Kinderschutzdienst unterzubringen bei einer Beraterin und dann zu warten, ob diese mit den Kindern belastende Aussagen produziert. Das bedeutet eine ständige Verquickung von Staatsanwaltschaft und Beratungsstellen.

Ginge es nicht anders?

„Wildwasser Wiesbaden“ hat beispielsweise einen klaren Trennungsstrich gezogen. Sobald es bei einer Klientin um die Frage geht: Strafanzeige ja oder nein? verweisen sie sie weiter an eine Rechtsanwältin. Denn Beratungsstellen, die aus der Frauenbewegung kommen, achten darauf, daß ihre Klienten erst dann der Strafjustiz ausgeliefert werden, wenn es eine klare Beratung gegeben hat darüber, was mit einer Strafanzeige auf Betroffene zukommen kann. Diese Beratungsstellen haben nicht den Übereifer, für ein nicht existierendes gemeinsames Ziel des Kinderschutzes mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten.

Was sollte sich bei der Justiz ändern, damit sich „Worms“ nicht wiederholen kann?

Es sollte im Rahmen der Nebenklage Anwaltszwang herrschen. Das bedeutet, daß die Mädchen und Jungen frühzeitig Rechtsanwältinnen als Zeugenbeistand an ihre Seite bekommen. Dann könnten übereifrigen Staatsanwaltschaften, wie der in Mainz, Grenzen gesetzt werden: Die Staatsanwaltschaft Mainz hat Fünfeinhalbjährige über mehrere Stunden hinweg vernommen. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat Kinder nicht unabhängig voneinander vernommen, sondern hat zugelassen, daß Geschwisterkinder drumherum springen. Die Staatsanwaltschaft Mainz hat Telefonate mit meinen kindlichen Mandanten – Vorschulkindern – hinterher als Vernehmungsprotokolle in der Akte erscheinen lassen.

Eine übereifrige Staatsanwältin wollte bei der Vernehmung auch anatomische Puppen einsetzen.

Ja, zu diesem Zeitpunkt war ich bereits beauftragt. Deshalb konnte ich ihr sagen: Lassen Sie den Koffer mit den Puppen stehen, es steht doch noch eine psychologische Begutachtung dieses Kindes aus, wo diese Puppen durch eine qualifizierte Fachkraft eingesetzt werden.

Ist für Sie die Staatsanwaltschaft der eigentliche Sündenbock?

Ich will keinen neuen Sündenbockmythos aufbauen. Es ist eine Verkettung von Fehlern auf allen Seiten gewesen. Aber immerhin ist die Staatsanwaltschaft die Herrin des Ermittlungsverfahrens.

Was fordern Sie von den Beratungsstellen, damit solche Kunstfehler nicht wieder passieren?

Die müssen sich offensiv mit den Fehlern auseinandersetzen, weiter um ihre Qualifizierung streiten, mit den Behörden kooperieren und sich vernetzen, aber sich klar von den Strafverfolgungsbehörden abgrenzen. Meine Erfahrung nach 18 Jahren als Anwältin sagt mir: Die Verfahren laufen dann schief, wenn sie nicht von vornherein mit Unterstützung der Betroffenen geplant sind. Wenn die Strafanzeige Hals über Kopf gestellt wurde, wenn irgend jemand aus der Umgebung die Mädchen und Jungen zur Anzeige gedrängt hat.

Hat sich das Verhältnis der Justiz seit „Worms“ zum Thema sexueller Mißbrauch verändert?

Meinem Eindruck nach beginnt bei der Staatsanwaltschaft Mainz der Übereifer bei der Strafverfolgung von Mißbrauchern ins Gegenteil umgeschlagen. Parallel und nach den „Wormser Verfahren“ beobachtete ich, daß Frauen, die Strafanzeige wegen sexuellem Mißbrauch erstatteten, nun ihrerseits postwendend eine Anklageschrift erhalten haben – „wegen falscher Verdächtigungen“. Ich beobachte aber auch die Tendenz bei Strafkammern, Täter zu höheren Freiheitsstrafen zu verurteilen.s

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