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„Ich bin nicht Therapeutin“

Brigitta Ciesielski ist seit 28 Jahren Vermittlerin beim Arbeitsamt. Früher war sie Dienstleisterin der Betriebe, jetzt verwaltet sie die Krise und fungiert als Sozialbetreuerin  ■ Von Hannes Koch

Der arbeitslose Journalist zittert vor Erregung: „Ich will mich beschweren“. Unangemeldet platzt er in das Büro von Arbeitsvermittlerin Brigitta Ciesielski und unterbricht das Beratungsgespräch mit einer ebenfalls jobsuchenden Apothekerin. Das Nebenzimmer sei nicht besetzt, poltert der Mann. Es ist 12.30 Uhr – offizielles Ende des „Publikumsverkehrs“ beim Arbeitsamt West in Charlottenburg. Jetzt hat er Angst, den Drei-Monats-Termin für seine Pflichtmeldung zu verpassen und keine Unterstützung mehr zu bekommen.

Notgedrungen ruft Ciesielski den Namen des Eindringlings im Computer auf und erklärt ihm, daß er noch zwei Tage Zeit habe. Er solle morgen wiederkommen. Tür zu, Tür auf: Jemand will wissen, wo die Leistungsabteilung ist. So geht das jeden Tag: „Der Andrang nimmt zu“, seufzt die 52jährige Vermittlerin, die AkademikerInnen und KünstlerInnen betreut.

Seit 28 Jahren versucht sie beim Arbeitsamt Leute in Lohn und Brot zu bringen und ist damit eine der dienstältesten VermittlerInnen der Stadt. 1969 brauchte die Verwaltung Fachkräfte aus der Wirtschaft. Brigitta Ciesielski sagte zu, weil sie sich selbst von Arbeitslosigkeit bedroht glaubte. In der ersten Rezession der Nachkriegsgeschichte wurde die Textilindustrie ins Ausland verlagert. Die Bekleidungstechnikerin Ciesielski sah schwarz für ihre berufliche Zukunft.

„Eigentlich macht die Arbeit auch heute noch Spaß“, sagt die muntere Beraterin. Wenngleich die Belastung steigt, der Erfolg abnimmt und sich ihre Tätigkeit radikal änderte. In den 70er und 80er Jahren versah Ciesielski ihre Aufgabe als Dienstleisterin der Betriebe, für deren zahlreiche offene Stellen sie geeignete BewerberInnen suchte und umschulte. Mittlerweile ist das Stellenangebot verschwindend gering, die Nachfrage nach Jobs durch Arbeitslose aber riesig. 1969 waren durchschnittlich 5.397 Arbeitslose in West-Berlin verzeichnet. Die 1996er Vergleichszahl: 149.801 JobsucherInnen.

Nun verwaltet Ciesielski die Krise. „Knapp 1.000 Leute habe ich im Computer“. Dagegen umfaßte ihre persönliche Klientel „in den 70er Jahren vielleicht 50 Personen“. Wegen der Gesetzesänderung vom Jahresbeginn muß jeder Einzelne alle drei Monate persönlich im Büro der Vermittlerin vorsprechen, um weiter Geld zu bekommen. Diese neuartige Disziplinierung soll die „Eigeninitiative“ der Arbeitslosen stärken, teilt die Bundesanstalt für Arbeit mit – und wohl auch die Zahlung an manche überflüssig machen. Für die „individuelle“ Beratung über Fortbildung, Umschulung, freie Stellen und Hilfezahlung bleiben Brigitta Ciesielski nur noch Minuten. Wann sie angesichts ihres strikten Terminplans eigene Fortbildung betreiben und sich in den Betrieben über neue Techniken und Anforderungen informieren soll, weiß sie sowieso nicht: „Ich habe kaum direkte Kontakte zu den Unternehmen.“

Außerdem mutiert die Vermittlerin zunehmend zur unfreiwilligen Sozialbetreuerin. Verzweifelt wird sie gefragt: „Wie soll ich als Arbeitsloser denn eine Familie gründen?“ Oder ihre BesucherInnen berichten, wie sie mit erhöhten Leistungsanforderungen aus ihrem letzten Job gemobbt wurden. „Was soll man dazu sagen?“ fragt Ciesielski. „Ich bin doch keine Therapeutin.“ Meist bleibt nur eine kurze Aufmunterung, den „Kopf nicht hängenzulassen“ – und der Hinweis auf irgendeine Qualifizierungsmaßnahme. Tür auf, Tür zu, die Nächste, bitte.

Die offiziellen Zahlen über die Vermittlung von Arbeitslosen freilich suggerieren auch heute noch Erfolg. Statistisch betrachtet, bekommt fast jeder Jobsuchende im Laufe eines Jahres eine neue Stelle. Doch die Zahlenwerke, das weiß Ciesielski, haben oft genug nicht viel mit der Realität zu tun. Denn als geglückte Vermittlung zählt jede Tätigkeit – egal, ob sie einen Tag oder zwei Jahre dauert. Viele „Vermittelte“ melden sich sehr schnell wieder beim Arbeitsamt zurück. Bei solchen Gedanken läßt dann selbst Birgitta Ciesielski die Schultern hängen: „Man kann doch fünf Millionen Menschen nicht ohne Arbeit lassen.“

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