: „Wer den Ball hat, ist bei uns am schlimmsten dran“
■ Beim 0:2 von Tottenham Hotspur bei Meister Manchester United beginnt es Jürgen Klinsmann zu dämmern, auf was er sich beim Londoner Premier-League-Abstiegskandidaten eingelassen hat
Manchester (taz) – Gary Pallister bereitete sich auf das Duell mit Jürgen Klinsmann im Schlaf vor. In einem Bettengeschäft legte sich der lange Verteidiger des englischen Meisters Manchester United nieder, rollte sich zusammen, streckte sich aus. Trainer Alexander Ferguson hatte die Liegestunde angeordnet. „Der Boß kümmert sich jetzt auch um unsere süßen Träume“, sagt Pallister. Rückenschmerzen quälen ihn, deshalb wurde ihm ein Spezialbett angefertigt. Viel aufregender als der Schlaftest am Mittwoch war das Fußballspiel am Samstag auch nicht für Pallister.
Müde ist das beste Worte, um die Aufführung von Tottenham zu beschreiben. 0:2 verloren die Nord-Londoner, und Pallisters Gegenspieler kam dabei selten mit dem Ball in Berührung; niemand war da, der den Stürmer Jürgen Klinsmann in Szene setzte. So schwach sei der Gegner gewesen, daß auch United nicht hätte gut spielen können, sagte Ferguson: „Es war zu gemütlich für uns.“
So war die Partie nur in einer Hinsicht eine Offenbarung: Tottenham ist wirklich so schlecht, wie es der Tabellenplatz nahelegt. Vorletzter ist die Elf. Das Beängstigende jedoch war, daß überhaupt nicht zu erkennen ist, wer für die Spurs Spiele gewinnen soll.
Klinsmann (33), vor drei Wochen von Sampdoria Genua ausgelöst, um die Mannschaft aus dem Abstiegskampf zu leiten, konnte bisher nicht helfen; er bräuchte ja erst einmal selber Hilfe. „Ich bin verdammt alleine da vorne“, sagt er zu seiner Rolle als einsamer Stürmer. Zum ersten Mal in seiner Karriere spielt der Mannschaftskapitän der deutschen Nationalelf gegen den Abstieg. „Klar habe ich gewußt, was auf mich zukommt, ich kann doch Zeitung lesen, und da stand: Tottenham, Vorletzter“, sagt Klinsmann, doch es fällt schwer zu glauben, daß er wirklich wußte, wie wenig ein einzelner – der noch dazu seine Form sucht – in einer darniederliegenden Elf ausrichten kann. Am Samstag konnte er es erkennen.
Die Angst führte den Fuß, wenn der junge Mittelfeldspieler Stephen Clemence den Ball blind wegbolzte, Hektik durchzuckte den Schweizer Nationalspieler Ramon Vega, als er einen Ball unbedrängt zum Gegner köpfte. Zu der Leistung des neuverpflichteten Italieners Nicola Berti fiel Trainer Gross nur ein: „Er kann es besser.“
In der 45. Minute ließ der norwegische Torwart Espen Baardsen (20) eine Flanke aus den Fingern rutschten, Ryan Giggs schoß ins Tor (und später auch das 2:0). Es war bezeichnend, daß ausgerechnet Baardsen den spielentscheidenden Fehler machte. Er war der beste Hotspur. Niemand, so scheint es, ist bei Tottenham momentan gut genug. „Der den Ball hat, ist bei uns doch am schlimmsten dran“, sagt Klinsmann, „wo soll er denn hinspielen, die anderen bieten sich nicht an.“
Es ist erstaunlich, wie frisch, wie freundlich Trainer Christian Gross trotz alledem noch immer wirkt. Vor sieben Wochen ist er aus Zürich nach London gekommen, um eine „unheimliche Herausforderung anzutreten“. Längst ist sie nur noch unheimlich. Er hat einen Kader übernommen, in dem ständig die Hälfte der Spieler allenfalls für die Doktorarbeit von Medizinstudenten ein Thema ist.
Zehn Spieler fehlten in Manchester verletzt, für Verteidiger Vega eine Folge des falschen Trainings unter Gross' Vorgänger Gerry Francis. „Unsere Fitneß war nicht top, und dann bist du in der zweiten Halbzeit müde und verletzt dich, wenn du versuchst, Vollgas zu geben.“ Gross selber machte nun erstmals seinem Vorgänger Vorwürfe. Es sei „zu einseitig einkauft worden, zu wenig offensive Kräfte“, sagt Gross, „der Mannschaft fehlt es an Substanz“.
Das Bemühen des Schweizers die Mannschaft neu zu organisieren, bescherte dem Klub bislang nur belustigte Aufmerksamkeit. Die englischen Spieler sträuben sich gegen Gross' Methoden. „Klar“, sagt Vega, „von denen haben doch viele noch nie im Leben zweimal am Tag trainiert“.
Die Verpflichtung von Andy Hinchcliffe (FC Everton) hat Gross gestoppt. Nun will man Stefan Effenberg von Borussia Mönchengladbach holen. Tottenhams Direktor Daniel Sugar, Sohn von Klubbesitzer Alan, war in Mönchengladbach und bot vier Millionen Pfund Ablöse. Effenberg dementierte gestern. Für die Zeitung Sunday Express gibt es jeeh nur noch einen, der Tottenham Hotspur retten kann. Sie titelte: „Himmel hilf“. Ronald Reng
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