„Jeder Tutsi geht mit Völkermordangst ins Bett“

■ In Ruanda eskaliert die Gewalt. Der EU-Beauftragte Aldo Ajello über Hutu-Revanchegedanken, Tutsi-Machterhaltungspläne und die Schwierigkeit, nach einem Völkermord Demokratie aufzubauen

Hutu-Milizen in Ruanda verstärken ihre Angriffe auf Zivilisten. Wie jetzt bekannt wurde, starben neun Nonnen bei einem Milizenangriff auf ein katholisches Kloster am vergangenen Donnerstag. Am Montag und Dienstag davor wurden 64 Zivilisten von Milizionären getötet. Ruandas Regierung hat nun die Armeespitze umstrukturiert und berät mit Uganda über ein gemeinsames Vorgehen gegen bewaffnete Gruppen. Auch im benachbarten Burundi dauern schwere Kämpfe zwischen der Tutsi-dominierten Armee und der Hutu-Guerilla an. Die taz sprach in Brüssel mit Aldo Ajello, seit 1996 EU-Beauftragter für die Region.

taz: Massaker in Ruanda, Kämpfe in Burundi – das Jahr 1998 beginnt schlecht in der Region. Wie beurteilen Sie die Lage?

Aldo Ajello: Die Verlierer der Region beginnen, eine gemeinsame Strategie anzuwenden – die ehemaligen Mobutisten in Zaire, die Milizen Ruandas und einige Unita-Rebellen aus Angola, die auf Mobutus Seite kämpften. Sie sind von einem sehr starken und intakten Revanchegeist beseelt. Die frühere Armee Ruandas hat sich nach der Auflösung der ruandischen Flüchtlingslager in Zaire 1996 mit den anderen Verlierern verbündet. Es läuft in der Region eine beachtliche und gefährliche Armee herum.

Ihren Krieg begründen diese Leute mit dem Kampf gegen die Tutsi-Herrschaft. Stimmt es, daß die Hutu in Ruandas Regierung nur Fassade sind?

Die Tutsi sind in der Übermacht in Ruanda, aber das ist das Ergebnis einer objektiven Situation. Das Problem des Völkermords ist noch offen. Die Überlebenden drängen auf Gerechtigkeit. Die aber ist nicht möglich nach diesem monströsen Völkermord, in dem fast eine Million Menschen starben und eine Unmenge Menschen an den Tötungen beteiligt waren – ein bewußter Geniestreich der Völkermordplaner, die man exemplarisch bestrafen muß. Man muß das Bedürfnis nach Ende der Straflosigkeit mit einer politischen Lösung für die „kleinen Täter“ verbinden. Sonst drängt man die kleinen Mitläufer in eine künstliche Solidarität mit den Völkermordplanern. Wenn man die juristische und die politische Verantwortung für den Völkermord auseinanderhält, können sich die Planer des Völkermords nicht mehr hinter der Masse der Täter verstecken. Die Regierungen in Ruanda und Burundi verstehen das, aber sie stehen unter dem Druck der Überlebenden und auch vor dem Problem fehlender Verfolgung der großen Völkermordverantwortlichen. Die laufen frei herum, sammeln Geld für neue Morde, und das internationale Ruanda-Tribunal hat noch keinen einzigen Prozeß abgeschlossen. Das macht es Ruandas Regierung sehr schwer, mit dem Ende der Straflosigkeit auch den Beginn von Vergebung einzuleiten.

Ruandas Tutsi-Vizepräsident Paul Kagame steht also zwischen zwei Fronten?

Es gibt in Ruanda eine Art Geheimkabinett aus mächtigen Leuten. Es ist eine Verhärtung und eine Militarisierung des Regimes zu beobachten, die auf diese Leute zurückzuführen ist, die es formal nicht gibt und die daher keine Verantwortung übernehmen, aber in der Praxis sehr wohl Entscheidungen treffen. Kagame ist eine Art Bindeglied zwischen diesen und der Regierung. Er versucht, den Ausgleich zu halten, und er will wirklich eine nationale Versöhnung herbeiführen. Aber er hat damit enorme Probleme in seiner eigenen Gruppe. Die Regierung muß da aufpassen, denn die Völkermörder spekulieren ja darauf, daß die Regierung die Nerven verliert und zu blinder Repression greift, so daß die Völkermörder eine zur Zeit noch nicht existierende ethnische Solidarität um sich aufbauen können.

Wie kann Frieden einkehren? Muß erst der zu verteilende wirtschaftliche Kuchen größer werden, oder muß man zunächst Demokratie einführen?

Demokratie ist ein Wert an sich. In Mosambik gibt es ein richtiges Parlament, das die Regierung kontrolliert und Gesetze macht, und Mosambik ist eines der ärmsten Länder der Welt. Also steht Armut nicht im Widerspruch zur Demokratie. Man muß Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung zugleich einleiten. Wenn man den Leuten Bewegungsfreiheit ermöglicht, hat man einen großen Teil des Problems gelöst. In Ruanda und Burundi liegt die Bevölkerungsdichte bei fast 300 Menschen pro Quadratkilometer – nebenan, im Kongo, bei 17. Es gibt genug Platz für jeden. Man muß künstliche Hindernisse überwinden. Aber man darf nicht Regeln von Demokratie einführen, die zu dem betreffenden Land nicht passen. Würde man die angelsächsische Demokratie in die Schweiz importieren, würde das keine fünf Minuten funktionieren. Wieso also in Afrika? Es ist naiv, zu glauben, was gut für Westminster ist, ist auch gut für Kigali und Bujumbura. Die Wahlen in Burundi waren ja der Ursprung des Desasters in diesem Land. Grundsätzlich gilt: Jedes Mitglied der Tutsi-Minderheit geht abends mit Völkermordängsten ins Bett und wacht morgens damit auf. Entweder es gibt Garantien für diese Gruppe, oder sie wird immer versuchen, 100 Prozent der Macht für sich zu behalten, um zu überleben.

Ist Uganda, wo ein Gegenentwurf zur westlichen Demokratie aufgebaut wird, ein Modell?

Ugandas Präsident Museveni versucht, Formeln zu finden, die in seinem Land funktionieren. Die anderen Länder müssen ihre eigenen Wege finden. Wir können Grundregeln festlegen: Das Recht der Völker, ihre Führer zu wählen und abzuwählen; Gewaltenteilung; Einhaltung der Menschenrechte. Den Rest müssen die Leute selber machen. Interview: Pierre-Olivier Richard