: Wahnsinn ist wahr
Gestaltungsprinzip Erinnerung: „Hotel Morrison“ von und mit Gilla Cremer im Theater am Halleschen Ufer ■ Von Tobi Müller
Ein Bücherregal eines poetischen Revolutionärs vor knapp dreißig Jahren: Rimbaud, Nietzsche, Alexander der Große, Jack Kerouac, William Blake. Solcher Habitus erscheint bildungsbürgerlich. Heute wissen wir: Das mit dem Vatermord hatte schon wieder nicht geklappt. Über der Lampe hängt ein Tuch, daneben ein Dali-Poster. An der Tür zu diesem Tempel, der ständig mit den Doors beschallt wird, ein Schild mit der Aufschrift „Morrison Hotel, nobody gets out of here alive“.
Später dann heißt es frei nach Blake, daß alles unendlich erscheinen würde, wären denn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt. Unendlich weit weg zumindest, denkt der Nachgeborene nach 90 Minuten mit der Hamburgerin Gilla Cremer (Regie: Johannes Kaetzler), die eben die Erinnerung an ihren toten Bruder, an Jim Morrison von den Doors und an ihre Faszination für beide in Bruchstücken durcheinanderwirbeln ließ.
Erinnerung als primäres Gestaltungsprinzip: Die Bücher und die Einrichtung sind nicht Bühnenbild, sondern Erzählung Cremers, aufflackernde Zitate in einer lodernden Dramaturgie. „Hotel Morrison“ stand an der Zimmertür ihres großen Bruders Tom, dessen bewegtes, utopisches und im tödlichen Wahnsinn endendes Leben mit Morrisons Biographie überlagert, zunehmend auch gleichgeschaltet wird. Der dionysische Kalifornier inszenierte die ödipale Anstrengung in einem Reich der unerbittlichen Poesie (Nietzsches und Artauds Zitat-Angebote wurden kurz angenommen), beim deutschen Tom Cremer war die Grenzüberschreitung politischer aufgeladen: Der Aufstand als Prosa, man glaubt, die Fakten nach dem Erinnerungsjahr wieder zu kennen.
Gilla Cremer beschert uns glücklicherweise keine weitere Fiktion des Faktischen in Sachen Revolte und hütet sich davor, eine stringente Erzählung zu geben, die mit den einschlägigen Daten sauber ausgesteckt wäre. Doch damit begibt sie sich auf einen schmalen Grat, wo manchmal zwischen Betroffenheit oder Bekenntnis einerseits, dann wiederum deren Brechung schwer zu unterscheiden ist. Die öffentliche Figur Morrison wird der äußerst privaten ihres Bruders in ihrer Geschichte einverleibt. Der daraus resultierende gemeinsame Nenner rechnet den Bruder in öffentliche Sphären hinauf, die dem Klischee nicht mehr entwischen. Das gefährlichste Stereotyp: Wahnsinn ist wahr, ist luzide, poetisch und revolutionär. „Weit aufgerissene Augen, kleine Pupillen, die sehen alles!“ Der Opferkult mit dem Genialischen wiederholt sich im Privaten.
Eifersucht als „total deutscher Begriff“
Ein wenig mehr Distanz, die Cremer ihre eigene Figur durchaus erfahren läßt, wäre Morrison und ihrem Bruder gut bekommen. Wie wenn sie Postkartengrüße aus dem Theaterworkshop in der Toskana an ihren Bruder spricht und dabei unablässig die Lenden vor- und zurückschiebt. Oder bekifft am Strand von Marokko, wo Eifersucht plötzlich als „total deutscher Begriff“ entlarvt wird. Aber schon zappt es weiter, ein Doors-Fetzen, ein Zitat, eine Anekdote im Rollenspiel. Nicht ungeschickt eigentlich, im Gegenteil, manchmal kauft man Cremer ihre Anliegen, ihr Fürsprechen für „the other side“ fast zu gut ab.
Letztendlich bleibt die Krux mit dem Rock 'n' Roll auf der Bühne: Man muß ihn schon mögen. Sei es ein Kommentar oder ein Abgesang, wie es Jürgen Kruse zur Zeit in der Volksbühne treibt, oder der private, direktere Zugang Cremers. Beides setzt ein Wohlwollen, sicher aber ein Interesse an einer Kultur voraus, die schon höher im Kurs stand als heute. Sex und Drugs mögen da höher dotiert sein.
Weitere Vorstellungen: heute, Sa./So., jeweils 21 Uhr
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