Der Künstler tappt im dunkeln

■ In einer Woche soll der Künstler Ben Wargin den Lindentunnel an der Humboldt-Mensa räumen, aber der Senat hat ihn über die Umgestaltung zum „Platz der Revolution von 1848“ noch gar nicht informiert

Die Besucher sind irritiert. Viele haben erst vor wenigen Minuten den monumentalen Pergamon-Altar hinter sich gelassen, und schon starren sie in die Dunkelheit – bis ein Sensor ihre Existenz wahrnimmt und das nächste bizarre Kunstwerk erleuchtet, das ihnen den nächsten Schauer über den Rücken jagen wird. Vor ihnen leuchtet eine Wand aus fluoreszierend bemalten Gießkannen, zu ihrer Linken sitzt eine übergewichtige Gipsstatue mit geiferndem Gesicht vor einem überquellenden Kühlschrank. Ihr gegenüber warten gefallene Blätter in Reagenzgläsern auf einen neuen Frühling, laden Schädelknochen zur Besichtigung im Schaukasten ein.

Wenn man sich gerade an den Anblick blutender Kinderpuppen zwischen Baggern und abgesägte Birken zwischen Autoreifen gewöhnt hat, ertönt eine dunkle Männerstimme: „Wie gut hat alles angefangen.“ Vom Verbrechen des Fortschritts an vergangenen und künftigen Generationen ist die Rede. „Wir sind angekettet und versklavt.“ „Geisterbahn“ ist die erste Assoziation, die einem hier unten durch den Kopf schießt, „Pathologie“ die zweite.

Damit soll bald Schluß sein: Spätestens Anfang Februar wird der Lindentunnel, den der Aktionskünstler und Initiator des „Parlaments der Bäume“, Ben Wargin, für seine Ausstellung „Die Wüste ist in uns“ nutzt, abgedeckt. So hat es der Senat beschlossen. Die ehemalige Tunneleinfahrt neben der Mensa der Humboldt-Universität soll in den „Platz der Revolution von 1848“ integriert werden, dessen feierliche Umbenennung und Einweihung für den 18. März geplant ist. Das Pikante: Der Künstler selbst weiß noch nichts von seinem unmittelbar bevorstehenden Auszug. Sein Vertrag läuft erst Ende des Jahres aus, diverse Veranstaltungen sind in Planung.

Mit dem Lindentunnel soll nicht nur Wargins bizarres unterirdisches Gesamtkunstwerk verschwinden, sondern auch ein Stück wenig ruhmvoller Geschichte: Mitten im ersten Weltkrieg verbannte Kaiser Wilhelm II. die Straßenbahn in den Untergrund, damit seine Aussicht vom Schloß auf die Prachtstrasse Unter den Linden nicht vom Anblick profaner Trams getrübt werde. 1951 wurde der Betrieb des Tunnels wieder eingestellt. Bis Performancekünstler den Schacht nach dem Mauerfall wiederentdeckten, diente er als Lager des Gorki-Theaters.

Vor vier Jahren dann zog Ben Wargin ein. „Einmal Mozart“ habe er hier unten versammelt, sagt er – dreißig Jahre Schaffen. Der Tunnel ist sein persönlicher Hort für Skurrilitäten, die allesamt eine machtvolle politische Botschaft transportieren: Wider den Konsum, wider den Autowahn, wider den Fortschritt. Und die kleine Hütte an der Einfahrt beherbergt einen skurrilen Alt-68er mit Blaumann und Lederkappe: Hier hortet Wargin die Bilder, die eine Kamera in seinem Auftrag an jedem Tag von der gleichen Stelle des Potsdamer Platzes macht. Zwischen herumfliegenden Rechnungen und Werkzeugen hat er über 100 Schuhkartons gesammelt: von Leuten, die der Aufforderung, an der „sinnvollen Jahrtausend-Aktion der Kulturen und Völker für die Natur“ teilzunehmen, Folge geleistet haben. Sie haben ihre Kartons mit „Jahresringen der Begegnungen und Blättern der Erinnerungen“ gepackt und Wargin übergeben. Ab April sollen sie ausgestellt werden – falls es dann noch einen Ort zum Ausstellen gibt. Schon über das Transportmittel Schuhkarton könnte Wargin stundenlang philosophieren. „Sie haben etwas ungeheuer Hilfloses“, sinniert er, „jeder besitzt einen, und keiner schaut sie an.“ Und andererseits demonstrierten sie, „daß wir seit mehreren Jahrhunderten unsere Füße verpackt haben“. Die meisten sprechen nicht mit Ben Wargin. Er sei es leid, den Kaspar zu spielen, sagt er, Lehrern ihre Arbeit abzunehmen. „Manche begreifen vielleicht etwas.“ Die meisten seien zumindest beeindruckt. Das liegt wohl auch am Standort: Es sind nur ein paar Schritte von der großen Kunst in den gewienerten Gebäuden der Museumsinsel bis in den Untergrund, der bei starkem Regen immer wieder leergepumpt werden muß. Dem Künstler, der insgesamt schon „zweimal Mozart“ hinter sich hat, fehlen ein bißchen die Argumente, um für den Erhalt seiner Ausstellung zu kämpfen. Schließlich betrachtet er jede Form von Kultur eigentlich als ein „Stück Verblödung“: „Das einzige, was wir wirklich produzieren, ist unsere Scheiße.“ Und: „Wer behauptet, ein soziales Wesen zu sein, sollte sich mal einen Tag neben eine Birke stellen.“ Im Lindentunnel findet sich jedenfalls Verblödung von einer Sorte, die Berlin nur guttun kann. Jeannette Goddar