: Sportbegeisterung statt Budenzauber
Gesichter der Großstadt: Das 71jährige Radsportidol Otto Ziege organisiert seit 1957 die Berliner Sechstagerennen. Ans Aufhören denkt der Sportfunktionär noch lange nicht ■ Von Jürgen Schulz
Über mangelnde Beschäftigung kann Otto Ziege nicht meckern. „Sie finden mich im Zielraum“, meint der 71jährige und hastet aus dem Raum für Dopingtests zum Startschuß des 87. Berliner Sechstagerennens.
Im hypermodernen Velodrom an der Landsberger Allee scheint nichts ohne das betagte Radsportidol der Spree-Athener zu gehen. Otto schlägt die Rundenglocke, ulkt mit den Fahrern, gibt dem Hallensprecher Anweisungen oder scheucht unvorsichtige Fotografen von der schnellen Holzbahn. Neben dem rüstigen Senior wirkt Eberhard Diepgen, der die Veranstaltung am ersten Abend heimsucht, noch blasser als sonst.
Ziege atmet nach dem Startsignal kräftig durch. „Es macht noch immer Spaß, obwohl doch einige Plätze auf der Tribüne frei geblieben sind. Es ist schwer, Geld zu verdienen in dieser teuren Halle.“ Früher war der Sportpalast sein Domizil, dort gab der Frauenliebling nach 38 Sixdays im Jahre 1956 seinen Abschied als Bahnfahrer. Obwohl der umjubelte Pedaleur kein einziges Hallenrennen gewann – sein größter Erfolg war die Deutsche Straßenmeisterschaft 1949 in Dortmund – ging „OZ“ als Sechstage-König in die Annalen ein. Der Name Ziege gehört zur Berliner Sportgeschichte wie etwa Bubi Scholz. Im Mai 1989, als Anwohner sich über den lärmenden Nachtbetrieb an Ottos Charlottenburger Tankstelle beschwerten, wurden die Lappalie zur Majestätsbeleidigung hochstilisiert. Man kann eben auch als Funktionär berühmt werden.
Seit 1957 organisiert der Ex- Radler nun schon die Berliner Sechstage-Jagd, zunächst im Sportpalast, ab 1977 in der jüngst geschlossenen Deutschlandhalle. Die Zwangspause von 1990 bis 1996, als dem Reifen-Spektakel wirtschaftlich die Luft ausging, nutzte der Berliner, um sich als Sportdirektor auf die Dortmunder Veranstaltung zu konzentrieren.
„Ich weine weder dem Sportpalast noch der Deutschlandhalle eine Träne nach. Das Velodrom ist ein wahres Schmuckstück“, urteilt Ziege. Ohnehin habe sich die Veranstaltung völlig gewandelt. „Zu meiner aktiven Zeit kamen viel mehr Politiker und Schauspieler. Das Sechstagerennen war damals ein gesellschaftlicher Höhepunkt.“ Noch heute muß der Pisten-Held erzählen, wie er nackt auf der Massagebank lag, und Marika Röck kam plötzlich durch die Tür.
Als Sportsmann kann Ziege über den stattgefundenen Wandel seiner stressigen Nachtschicht nicht traurig sein. Während andernorts in Deutschland das obligatorische Showprogramm zur eigentlichen Attraktion anvanciert (Szene-Ulk: „Nur die Radler stören“), kleben die Berliner am Holzoval. „Die Leute sind sehr sportbegeistert“, freut sich Ziege, worüber Bierbuden-Besitzer und Schausteller klagen. Wahrscheinlich liegt es daran, daß die meisten Zuschauer im Velodrom aus dem Berliner Osten kommen, wo traditionell weniger Wert auf Budenzauber gelegt wird.
Zieges Kinder sind die Fahrer. „Sie müssen vielseitiger sein als wir damals, denn es gibt inzwischen wesentlich mehr Wettbewerbe.“ Im altehrwürdigen Sportpalast mußte er oft bis zum frühen Morgen um die Runde kurven. Heutzutage lösen Sprints und Steher- Rennen die einstige Sixdays-Monotonie ab. Wer im Velodrom Erik Zabel, den Telekom-Gefährten des berühmten Tour-de-France- Siegers Jan Ullrich, sprechen will, kommt am Berliner Sportdirektor nicht vorbei.
Möglich, daß der Chef keine Aufgaben delegieren mag. Auf jeden Fall ist Ziege kein Grüß-Gott- August. Wie lange sich Otto die Plackerei noch antun will, kann er nicht sagen. „Mein Vorbild ist Richard von Weizsäcker, der war noch mit 74 Jahren Präsident.“
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