National-Krupp bringt mehr Gewinn

In Rixdorf war Musike: „Neukölln, wie hast du dir verändert“ – ein CD-Sampler des Neuköllner Heimatmuseums bietet nicht nur ein Stück Musikgeschichte, sondern erzählt vom Niedergang eines ganzen Stadtteils  ■ Von Axel Schock

„Auf den Sonntag freu ick mir / Denn da jeht et raus zu ihr / Fahren mit verjnüchtem Sinn / Pferdebus nach Rixdorf hin.“

„Wie dieser wüste Gassenhauer mit seiner kreischenden Klarinettenstimme unserem Orte geschadet hat, ist kaum zu beschreiben“, klagte 1908 die Rixdorfer Zeitung. Die Geschichte vom Franz und von der Rieke, die sich einen netten Sonntag machen, war vor knapp hundert Jahren so etwas wie ein Charts-Erfolg, der Rixdorf weit über Berlin und sogar bis nach Moskau und New York bekannt machte. Nicht nur, daß sich die Schellackpressung überall in Deutschland bestens verkaufte. Der bekannteste Interpret, der Tanzkomiker Littke-Carlsen, wurde mit dieser Nummer (und gemeinsam mit einer lebengroßen Rieke-Puppe) im Berliner Wintergarten genauso bejubelt wie in Odessa oder Stockholm. Über 10.000mal will der Schuhmachersohn aus Königsberg damit aufgetreten sein. Den wohlsituierten Rixdorfern war dieser Ruhm eher unangenehm. Schlimm genug, daß Rixdorf sich zur billigen Schlafstadt der Berliner Industriearbeiter und Dienstmädchen entwickelt hatte.

Ein Schlager empört das Bürgertum

Der Erfolg dieses Schlagers wie auch die bürgerliche Empörung sind symptomatisch für die rasante Entwicklung, die das Dorf Rixdorf (ab 1912 in Neukölln umbenannt) mitgemacht hatte. Mit der Eingemeindung von Rudow, Britz und Buckow war aus dem alten Bauern- und Weberdorf ein Vorort der Millionenmetropole geworden. Hier schlief das Industrieproletariat, das frühmorgens in die Fabriken und zu den „Herrschaften“ in den Dienst gen Berlin fuhr. Entsprechend hatte sich auch eine ganz eigene Unterhaltungskultur herausgebildet: eine Unzahl an Theater- und Musikvereinen, Chören, Kneipen, Ballsälen und Tanzveranstaltungen – in Rixdorf war Musike.

Mit der elitären Hochkultur im Westen hatte man wenig zu tun. Volkstheater, Arbeitervereine, Agitpropgruppen und Wohltätigkeitskonzerte bestimmten die Veranstaltungskalender, und von böhmischer Volksmusik bis zu aufrecht deutschen Lehrergesangsvereinen bewegte sich das musikalische Repertoire in den Unterhaltungspalästen zwischen der Neuen Welt an der Hasenheide und dem Saalbau in der heutigen Karl- Marx-Straße.

1990 bereits war das Heimatmuseum Neukölln den Spuren dieser außergewöhnlich vielfältigen Musikgeschichte in einer bemerkenswerten Ausstellung nachgegangen. Zum 100. Geburtstag des Museums folgt nun eine Zusammenstellung mit historischen Aufnahmen.

Vom Weihnachtslied zum Berlin-Mix

21 Musikstücke, beginnend mit einem tschechischen Choral, dem traditionellen Weihnachtslied jener Böhmen, denen Friedrich Wilhelm I. einst in Rixdorf Asyl gewährt hatte, bis zum (absolut verzichtbaren) 89er-Remix des Hits der Gropiuslerchen „Berlin, Berlin“.

„Neukölln, wie hast du dir verändert“ ist eine Fundgrube origineller wie überraschender Tondokumente, die allesamt ihre ganz eigene Geschichte erzählen: spannende, traurige, erschreckende, komische. Das ausführliche Booklet (von Ray Wollf, aus dessen Privatsammlung auch die meisten der Originalschallplatten stammen) macht aus diesem musikalischen Kuriosenkabinett eine beispielhafte Aufarbeitung von Kultur- und Sozialgeschichte, die zu entdecken sich nicht nur für Neuköllner lohnt.

Wer hätte geahnt, wie viele erfolgreiche Komponisten in diesem Stadtbezirk geboren wurden, dort gelebt und gearbeitet haben. Will Meisel etwa: Seine Edition Meisel war einer der ersten deutschen Musikverlage überhaupt. Oder Gerhard Winkler: Er gab von den 30er bis zu den 50er Jahren der Sehnsucht der Deutschen nach Sonne, Süden und insbesondere Italien die entsprechenden Schlagermelodien: „O mia bella Napoli“, „Frühling in Sorrent“, „Chianti-Lied, „Schütt' die Sorgen in ein Gläschen Wein“ und nicht zu vergessen die „Capri-Fischer“. Seiner Originalaufnahme von 1942 mit der Siemens-Sekretärin und Gelegenheits-Sopranistin Magda Hain war allerdings kein großer Erfolg beschieden. Gerade war die Platte auf dem Markt, erklärte Mussolini Nazideutschland den Krieg. Von Capri wollte da niemand mehr singen. Doch kaum war Frieden im Land, wurde Rudi Schurickes Version zu einem Hit – weltweit. „Capri-Fischer“ war das erste deutsche Lied nach 45, dessen Verlagsrechte ins Ausland verkauft werden konnten.

Nicht alle waren als Komponist so erfolgreich. Leopold Maaß zum Beispiel war mit seinen Operetten und Kabarettliedern gescheitert, sein Geld mußte er mit Auftragsarbeiten mit Werbemelodien für Sarotti und Sinalco verdienen. Als 1929 das Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz eröffnete, war dies eine Weltsensation. Modern wie kein zweites auf dem Globus und immerhin das größte in Europa. Leopold Maaß lieferte dazu die entsprechende musikalische Untermalung: Lieder mit Titeln wie „Alles was zur Frau gehört“ oder „Herrengesang mit Orchester- Begleitung“.

Auch der Registrierkassenhersteller National-Krupp ließ zum Ansporn seiner Vertreter 1937 eigens eine Platte einspielen: „National-Krupp bringt mehr Gewinn.“ Nach Kriegsbeginn brauchte man keine solchen Platten mehr: „Mit Hilfe von unbezahlten Zwangsarbeiterinnen war ja noch mehr Gewinn zu erzielen“, erinnert Ray Wollf an die namenlosen Opfer der deutschen Kriegswirtschaft.

Das bittere Ende der Arbeiterchöre

Auf einem Teil des Werksgeländes (heute Sonnenallee 187/189) waren bis September 1944 in fünf Baracken mehr als 500 Frauen aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion kaserniert, später wurden alle durch jüdische Häftlinge aus Lodz und Auschwitz ersetzt, das Arbeitslager zu einer Außenstelle des KZ Sachsenhausen umfunktioniert.

Welchen Kahlschlag der Nationalsozialismus in der maßgeblich von Juden geprägten Unterhaltungskultur verursacht hat – auch das erzählt diese CD. Robert Gilbert („Im weißen Rössl“), der Komponist des Operettenschlagers „Wollen wir nicht beide in die Hasenheide gehn?“, mußte Deutschland verlassen, ebenso sein Texter Ernst Neubach, der Welthits wie „Ein Lied geht um die Welt“ geschrieben hatte. Der Kabarettist Willy Rosen wurde in Auschwitz ermordet, Paul Bendix in Theresienstadt. Und Martin Rozenberg, Komponist und Leiter einer der profiliertesten Arbeiterchöre Neuköllns, schrieb vor seinem Tod im Konzentrationslager Sachsenhausen noch den „Jüdischen Todessang“.

„Neukölln, wie hast du dir verändert“ (Oriente Musik Berlin, OBECD 800)