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De Sade aus Pragmatismus

Mit 900 Fotos und Objekten widmet die Galerie der Stadt Stuttgart dem Dadaisten und Surrealisten Man Ray die erste deutsche Gesamtausstellung  ■ Von Gabriele Hoffmann

Man Ray hat in Deutschland nie eine Retrospektive bekommen. Auch in den USA mußte der Fotograf seinen 85. Geburtstag abwarten, bis das Gesamtwerk 1975 in einer New Yorker Ausstellung gewürdigt wurde. Nun versucht die Galerie der Stadt Stuttgart eine Huldigung an den ganzen Man Ray als dem „radikalen Vordenker der Moderne“: Über 900 Exponate wurden zusammengetragen und in einer überzeugenden Mischung aus Fotografie, Objektkunst, Malerei, Zeichnung und Druckgraphik ausgebreitet.

Chronologische Ordnung ja, aber – mit Blick auf ein „junges Publikum von Schülern und Studenten“ – ohne Strenge. Da können sich Andrea Jahn und Johann-Karl Schmidt auf den Künstler berufen: „Mich interessiert überhaupt nicht, als Maler, als Schöpfer von Objekten oder als Fotograf konsequent zu sein.“ Äußerungen wie diese lassen sich im Steinbruch der selbstreflexiven Gedanken des Anarchisten Man Ray in allen Perioden finden.

1890 als Sohn jüdischer weißrussischer Einwanderer in Philadelphia geboren, zog er sieben Jahre später mit der Familie nach New York. Er begann zu malen und zu zeichnen, wobei die berühmte Armory-Show 1913 und die Bekanntschaft mit dem Fotografen Alfred Stieglitz, der in seiner Galerie an der Fifth Avenue Cézanne, Picasso, Matisse und Brancusi ausstellte, für Man Ray erste Orientierungspunkte bildeten.

Von gemalten Etüden nach europäischen Vorbildern landet er 1917 mit einem kühnen Satz bei dadaistischen Assemblagen wie „Boardwalk“ (Strandpromenade), dessen Schachbrettmuster auf die 1915 in New York beginnende Freundschaft mit Duchamp hinweist. Wie alle übrigen Objekte und Assemblagen der Stuttgarter Ausstellung entstammt das Exponat einer späteren, vom Künstler genehmigten Auflage. „Selbstportrait“, eine Assemblage von 1916 – zwei Klingeln und ein Klingelknopf rahmen einen Handabdruck als Signatur –, bekommt man als Vintage Print (Erstabzug) zu sehen. Beim weitaus größten Teil der berühmten Fotografien Man Rays („Violon d'Ingres“ [1924], „Noire et Blanche“ [1926] und „Glass Tears“ [1930]) muß man sich dagegen mit späteren Abzügen, die meisten aus den siebziger und achtziger Jahren, begnügen.

Als Man Ray am 14. Juli 1921 in Paris Einzug hält, hat das Einmannunternehmen „New York Dada“ in den USA Spuren hinterlassen. Das „Cadeau“ (Geschenk) für die Pariser Künstlerclique um Louis Aragon, Hans Arp, Paul Eluard, Max Ernst und Tristan Tzara ist ein mit Nägeln besetztes Bügeleisen. Noch größere Begeisterung löst Man Ray im gleichen Jahr mit einer zufälligen Entdeckung, der nach ihm benannten Rayografie aus. Beliebige Gegenstände werden auf lichtempfindliches Papier gelegt und belichtet. Auch wenn heute jedes Schulkind mit dieser Methode experimentiert, Man Rays frühe Rayografien lassen noch immer den Enthusiasmus spüren, mit dem er 1922 eine völlig neue Möglichkeit zur Manipulierung des fotografischen Abbildes erkundete: „Ich würde eher eine Idee als einen Gegenstand fotografieren und eher einen Traum als eine Idee“.

Diese Einstellung ließ Man Ray 1928 – wieder durch einen „Unfall“ – die Solarisation entdecken, ein Verfahren, bei dem ein dunkler Umriß die Fotografie dreidimensionaler Gegenstände der zweidimensionalen Zeichnung angleicht. So scheint sich auf der solarisierten Aktaufnahme „Primat de la matière sur la pensée“ der weibliche Körper wie auf Bildern Dalis zu „verflüssigen“.

In Paris ist Man Ray vor allem Fotograf, der sich mit Akten, Porträts und Modeaufnahmen einen Namen macht. Dem entsprechend bekommt man auch Kontaktabzüge in endlosen Reihen geboten, was aber den Verzicht auf Erstabzüge bei den Serien zur Pariser Kunst- und Literatenszene oder den Aktaufnahmen von Meret Oppenheim und Nusch Eluard kaum kaschiert.

Man Ray hat immer wieder betont, wie wichtig ihm die Malerei ist. „Ich male, was nicht zu fotografieren ist, und ich fotografiere, was ich nicht malen möchte.“ Leider ist die Ausstellung solchen Sprüchen blindlings gefolgt. Den Eluard gewidmeten Wandschirm möchte man hingegen nicht missen, und auch der schwarz-rot-weißen Abrechnung mit der „Mythologie moderne“ (1956) kann man aus heutiger Perspektive etwas abgewinnen – nur bitte nicht dem 1941 in Hollywood entstandenen „Leda und der Schwan“.

Was den Magier Man Ray von den europäischen Dadaisten und späteren Surrealisten unterscheidet, ist sein Pragmatismus. Immer bedient er sich für sein erklärtes Ziel, Ideen, nicht Gegenstände darzustellen, der sparsamsten Mittel. Seiner Bewunderung für de Sade gibt er mit einer elegant gefesselten Venus Ausdruck. Für elf Jahre lebt der Jude Man Ray im Exil in Hollywood, 1951 kehrt er endgültig nach Paris zurück. Drei Jahre vor seinem Tod 1976 entsteht die kaum bekannte elfteilige Fotoserie „Milchstraßen“ (Les voies lactées). Optische Auslöser für die organisch bewegten schwarzen Linien vor weiß- grauem Grund waren Milchspuren an einem Glas, mit dem Titel bezieht sich Man Ray noch einmal auf Duchamps „Großes Glas“. „Objects of my affection“ nennt er jetzt seine Objekte und Readymades. Ob „Pandora's Box“ (Ampulle mit Feuerzeugbenzin auf vulvaförmiger Ziegelscherbe), „Le marteau“ (Klosettsitz aus schwarzem Bakelit als Türklopfer) oder zwei gekreuzte Bettfedern auf einer Zigarrenschachtel („It's Springtime“): mit Liebe und dem, was für Man Ray dazugehört, haben alle etwas zu tun.

Bis 13.4. in der Galerie der Stadt Stuttgart (danach Duisburg und Mönchengladbach). Der Katalog kostet 54 Mark.

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