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Koscher mal Drastik ist gleich Vergessen

■ Karl Abraham gehört zu den Begründern der Psychoanalyse / Geboren wurde der Schüler-Freuds und Pionier der Seelenforschung in Bremen / Doch das weiß kaum jemand: Weder Chroniken noch Straßennamen erinnern an ihn

Vielleicht war die Wurst schuld. Pinkel, die zwischen dem fettigen Grünkohl hervorlugte. Ein jüdischer Junge mußte Ende des letzten Jahrhunderts in Bremen zuschauen, wenn sich die selbstbewußten hanseatischen Bürger – vom Senator bis zum Hafenarbeiter – in die Kohl-und-Pinkel-Zeit stürzten. Seine Familie, die Abrahams, aß koscher.

Ein Beobachter also. Die Wurst, die in den kauenden Mündern verschwand, sah sie nicht phallisch aus? Begann der kleine Karl deshalb, die ersten Bezüge zwischen Macht, Männlichkeit und primären Geschlechtsmerkmalen zu analysieren? Später, als Psychoanalytiker Karl Abraham, sollte er mit Schriften über den weiblichen Kastrationskomplex bekannt werden. Frauen, so steht dort geschrieben, wünschen sich ein stämmiges Glied, aber sie haben nur ein Loch – eine Wunde – aus dem es jeden Monat blutet.

Während ältere Damen die Sehnsucht neurotisch verdrängen, versuchen die Mädchen noch mit den Eltern zu verhandeln, um einen Penis zu erhalten. Drastische Formeln und Tabubrüche hat Abraham in seinem Aufsatz von 1921 nicht gescheut. „Kot = Geschenk = Penis“formulierte er über das, was die Eltern aus der Windel holen.

Die These vom weiblichen Kastrationskomplex ist in der Psychoanalyse überholt. Doch Abraham hat auch über Melancholie, Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg, Symbole, Märchen und Mythen geschrieben. Er war ein enger Freund und Schüler Sigmund Freuds, den er 1907 über einen Kontakt von C.G. Jung kennenlernte. Als erster praktizierender Analytiker Deutschlands eröffnete er im selben Jahr eine Praxis in Berlin. Später, 1920, gründete er in der Hauptstadt das Psychoanalytische Institut.

Abraham ist also Begründer der deutschen Psychoanalyse. Trotzdem verweist nichts in seiner Geburtsstadt Bremen, in der er 1877 zur Welt kam, auf den Psychoanalytiker. Kein Institut ist nach ihm benannt, keine Straße trägt seinen Namen. Karl Abraham sucht man vergeblich in einem Bremer Nachschlagewerk. „Die Bremer wissen heute, daß Karl Carstens hier geboren ist, aber nichts von Karl Abraham“, sagt Sozialwissenschaftlerin Bettina Decke. Während ihres Studiums in den 60ern hielt die 54jährige Akademikerin in Marburg ein erstes Referat über Abraham. Als sie dann vor einigen Jahren nach Bremen zog, kam ihr die Idee, im Bremer Staatsarchiv nach Spuren des Analytikers zu suchen.

„Darf ich sagen, daß es verwandte jüdische Züge sind, die mich in Ihnen anziehen?“schreibt Freud 1908 in einem Brief an Abraham. Tatsächlich war der kleine Karl – zusammen mit seinem Bruder Max – thoratreu erzogen worden. An Sabbat waren die beiden Jungen in ihrer Schule „Altes Gymnasium“an der Kleinen Helle vom Schreiben und Sport befreit. Dadurch blieben sie in den Augen ihrer Mitschüler Sonderlinge. Wer kannte damals einen Juden in Bremen? Nur 350 jüdische Bürger zählte Bremen 1877. Die kleine Gemeinde hielt Karls Vater – Nathan Abraham – als erster Vorsitzender zusammen. Ursprünglich war er Prediger gewesen, hatte aber nach seiner Heirat den Beruf eines Tabakgroßhändlers angenommen. Die Familie bewohnte ein bremisches Haus an der Bismarckstraße, nahe dem Hauptbahnhof.

Um Medizin zu studieren, verließ Karl Abraham 1896 Bremen. Seine erste Anstellung fand er 1901 als Arzt in der Berliner Irrenanstalt Dalldorf. In der Großstadt hörte er auf, koscher zu essen und den Sabbat zu feiern. „Der Bruch mit den religiösen Riten der Eltern und des Bruders Max war ungeheuer stark“, urteilt Decke. Nur die jüdischen Mythen ließen Abraham bis zu seinem Tode am 1. Weihnachtstag 1925 nicht los. Als Wissenschaftler nahm er sie auseinander.

Und warum ist der Psychoanalytiker Karl Abraham in seiner Geburtsstadt unbekannt? Es gab bisher niemand in Bremen, der an ihn erinnerte. „Wenn Karl Abraham aus irgendeiner bekannten Bremer Familie gewesen wäre, ich glaube, die hätten schon dafür gesorgt, daß ihr Sprößling eine öffentliche Präsenz hätte“, meint Decke. Die Familie Abramham gbit es in Bremen nicht mehr. Sie wurde in der NS-Zeit entweder ermordet oder ging ins Exil. Susanne Leinemann

Bettina Decke: „Karl Abraham: Familie, Kindheit und Jugend in Bremen“findet sich in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Nr. 20/ 1997.

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