: Politik ist keine Geisel des Haushaltsdefizits mehr
■ Ungewohnt: In den USA wird gestritten, wie ein Haushaltsüberschuß verwandt werden soll
Washington (taz) – 300 Seiten stark ist das Werk, und es hat Chancen, das populärste Buch zu werden, das seit langem veröffentlicht wurde: der Haushaltsentwurf, den die Regierung Clinton gestern dem Kongreß vorlegte. Er sieht Neuausgaben von 100 Milliarden und Steuererleichterungen von 24 Milliarden Dollar vor. Auf der Ausgabenseite stehen populäre Programme wie 161 Milliarden für Wissenschaft und Forschung, 35 Milliarden für die Umwelt, 21 Milliarden für Kinderbetreuung. 100.000 Lehrer sollen neu eingestellt und 5.000 Schulen renoviert werden. Die bisher nur für Rentner existierende allgemeine Krankenversicherung soll auf die unter 55jährigen ausgedehnt werden.
Die Öffentlichkeit reagiert wie die Teilnehmer einer Schlankheitskur, denen man plötzlich verkündet: Leute, laßt es euch schmecken, was heute serviert wird, macht nicht dick. Denn das besondere an diesem Haushalt ist, daß er ausgeglichen ist – oder doch so gelesen werden kann. Seine Vorlage beendet eine Ära, in der alle politischen und sozialen Fragen Geisel eines wachsenden Haushaltsdefizits waren. Nichts konnte anders denn unter buchhalterischen Gesichtspunkten diskutiert werden – was Wunder, daß sich die meisten Menschen von der Politik abwandten.
Die Verwandlung des Defizits in Überschuß geht nur zum Teil auf Ausgabendisziplin zurück. Entscheidend waren das Wirtschaftswachstum und eine Neuregelung der Besteuerung von Kapitalerträgen. Entsprechend schwemmte der boomende Aktienmarkt Geldströme in die Bundeskasse. Heute machen die Sozialausgaben im US-Haushalt 42 Prozent aus, die Verteidigungsausgaben nur noch 15 Prozent. Allerdings rechnen Clintons Ausgabenpläne auch auf Einnahmen, die noch gar nicht in der Staatskasse sind. Um die neuen Programme bezahlen zu können, ohne den zarten Überschuß in der Kasse gleich wieder aufzuzehren, spekuliert er auf 60 Milliarden Dollar aus dem Deal mit der Tabakindustrie: 360 Milliarden Dollar soll der in einem Zeitraum von 20 Jahren abwerfen, im Gegenzug für die Immunität der Industrie vor Schadenersatzklagen. Und die nationalen Schulden, die sich in 30 Jahren Haushaltsdefizit angesammelt haben, belaufen sich immerhin auf 5,6 Billionen Dollar.
Egal, das Ringen um den goldenen Überschuß ist ausgebrochen. Da sind jene, die jeden Überschuß den Steuerzahlern in Form von Steuersenkungen zurückgeben wollen. Denen stehen jene gegenüber, die das Geld ausgeben wollen – je nach politischer Couleur für Sozialprogramme oder für Verteidigung und Straßenbau. Und dann sind da die Mahner, die raten, die Staatsschuld abzutragen und die Rentenversicherung zu sanieren. Clinton steht mit beiden Beinen in den beiden letztgenannten Lagern. Das ist populär. Ob er in einem republikanisch dominierten Kongreß Aussicht auf Erfolg hat, hängt auch vom Ausgang der Skandalgeschichte ab, in die er verwickelt ist. Peter Tautfest
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