piwik no script img

Schärfere Ahndung bei häuslicher Gewalt

Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt (BIG) stellte gestern erste Ergebnisse vor. Polizisten sollen in den Notrufzentralen mit Checklisten stärker sensibilisiert werden. Mehr Verfahren gegen Täter  ■ Von Julia Naumann

Wenn Polizisten zu einer Wohnung gerufen werden, weil NachbarInnen Lärm und Schreie gehört haben, dann sollen sie künftig sensibler reagieren, im Bewußtsein haben, daß es sich möglicherweise nicht um lapidare Streitigkeiten handelt. Sondern daß eine Frau eventuell geschlagen, getreten, mißhandelt wurde. Denn, so konstatierte gestern der Staatssekretär der Innenverwaltung, Kuno Böse, häusliche Gewalt gegen Frauen werde „von vielen Polizisten immer noch nicht erfaßt“.

Polizisten, so Böse, gingen bei der Beweisaufnahme von „Ehestreitigkeiten“ darüber hinweg, daß es sich oft nicht um einen harmlosen Krach handele. Das soll sich jetzt nach Willen der Innenverwaltung mit Hilfe von Fortbildungskursen ändern. Die MitarbeiterInnen der Notrufzentrale, die die 110-Anrufe aufnehmen, müssen, so Böse, zukünftig eine Checkliste abhaken. Wenn zum Beispiel eine Nachbarin bei der Polizei anruft und einen lautstarken Krach in der Nebenwohnung meldet, dann sollen die PolizistInnen anhand der Liste herausfinden, ob es sich um häusliche Gewalt handelt. So sollen sie detailliert nach den Vorkommnissen fragen, wo die Frau sich aufhalte, ob sich auch Kinder sich in der Wohnung befinden, ob der Mann Waffen besitzt.

Daß bei der Polizei anscheinend ein Bewußtseinswandel gewünscht wird, kann dem Ende 1995 gestarteten Berliner Interventionsprojekt gegen Gewalt (BIG) zugeschrieben werden, das von der Senatsfrauenverwaltung und dem Bundesfrauenministerium gefördert wird. Rund 110 ExpertInnen aus Frauenhäusern und -projekten, der Polizei und Justiz erarbeiten gemeinsam in sieben Fachgruppen verwaltungs- und projekteübergreifend neue Strategien zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Sie erstellen Publikationen zur Aus- und Weiterbildung, entwickeln Präventions- und Interventionsstrategien sowie Hilsangebote für Opfer. Gestern stellten sie Zwischenergebnisse vor.

Als ersten Beleg für einen Bewußtseinswandel der Behörden nannte Justizsenator Ehrhart Körting (SPD) den Anstieg der Verfahren. So erhöhte sich zwischen September 1996 und August 1997 bei rund 3.560 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt die Anklagequote von 17 Prozent in der ersten auf 25 Prozent in der zweiten Jahreshälfte. Der Anteil der eingestellten Verfahren sank im gleichen Zeitraum von 60 auf 43 Prozent. Derzeit arbeiten zwei Sonderdezernate für häusliche Gewalt mit dem BIG eng zusammen.

Zukünftig soll auch geprüft werden, ob die gesetzlichen Vorschriften im Zivilrecht zum Schutz der Frauen voll ausgeschöpft werden und überhaupt ausreichen. Insbesondere gehe es um das Verbot der Täter, die eheliche Wohnung zu betreten und die Möglichkeit, der Frau die Wohnug zuzuweisen, sagte Körting. In der Regel sei es immer noch so, daß die Opfer und nicht die Täter die Wohnungen verließen.

Ganz besonders wichtig ist im Rahmen der Arbeit von BIG die Erfassung und Auswertung von statistischen Daten zu häuslicher Gewalt. Denn, so BIG-Mitarbeiterin Birgit Schweikert, seien diese bei Polizei und Justiz kaum vorhanden. Bisher ist häusliche Gewalt in der Kriminalstatistik nicht besonders ausgewisen, sondern anderen Delikten wie Körperverletzung zugeordnet. So werden deshalb für drei Monate modellhaft alle Fälle häuslicher Gewalt, mit der die Polizeidirektion 7 (für Weißensee, Hohenschönhausen, Prenzlauer Berg, Marzahn und Hellersdorf zuständig) befaßt ist, konkret dokumentiert. Die Polizisten müssen ihre Einsätze detailliert aufschreiben, so Birgit Schweikert. Durch diese Datenerhebung erhofft sich BIG mehr Erkenntnis über das Ausmaß häuslicher Gewalt. Bisher sind wegen der ergeblichen Dunkelziffer nämlich nur vage Schätzungen möglich. Allein in den sechs Berliner Frauenhäusern suchen im Jahr durchschnittlich 2.500 Frauen mit 2.000 Kindern Zuflucht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen