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„Wir sind praktisch im Gefängnis“

Ein Jahr nach Unterzeichnung des Hebron-Abkommens sind Teile der Stadt noch immer gesperrt. Palästinenser müssen über Dächer der Nachbarhäuser klettern, um in ihre Wohnungen zu gelangen  ■ Aus Hebron Georg Baltissen

In der Kasbah von Hebron herrscht trügerische Gelassenheit. In den engen, dunklen Gassen der Altstadt zwängen sich die Menschen aneinander vorbei. Ein palästinensischer Junge schiebt seinen schwerbeladenen hölzernen Karren durch das Gewühl. „Nach rechts, nach rechts!“ schreit er. Doch nur zögernd folgen die Passanten seinem Ruf. Staus sind unvermeidlich. Doch Unruhe kommt nicht auf.

Die Gasse führt direkt auf die Schuhada, die Straße der Märtyrer, von den jüdischen Siedlern umgetauft in König-Salomon-Straße. Auch ein Jahr nach dem Hebron-Abkommen ist sie noch immer gesperrt für den palästinensischen Durchgangsverkehr. Aus Sicherheitsgründen, wie ein israelischer Soldat sagt. Laut Hebron- Abkommen hätte die Straße nach der Restaurierung längst für den Verkehr frei sein sollen.

„Unsere Sicherheit ist in ernster Gefahr“, erklärt David Wilder, einer der Sprecher der 54 jüdischen Siedlerfamilien in Hebron. „Unsere Kinder können nur selten hier auf der Straße spielen. Die Gefahr terroristischer Angriffe ist groß.“ Ein mehrere Meter hoher Zaun trennt das jüdische Viertel von den rund 130.000 Palästinensern, die in der Stadt des Patriarchen Abraham leben.

Im Januar 1997 wurde Hebron autonom, die Palästinenser übernahmen die zivile Verwaltung. Doch in mehr als 20 Prozent des Stadtgebietes herrscht weiterhin das israelische Militär, mit automatischen Kameras und schwerbewaffneten Posten auf den Dächern der Altstadt, verschanzt hinter Sandsäcken. Im Fachjargon ist die Stadt geteilt in die Viertel H1 und H2. Die Kasbah liegt unter israelischer Militärkontrolle. Ein ständiges Ärgernis für die Bewohner. Im Januar wurde ein Teil des Gemüsemarktes, direkt gegenüber von „Avraham Avinu“, einem Zentrum der jüdischen Siedler, aus Sicherheitsgründen geschlossen.

Israelische Soldaten versiegelten zudem die Zugänge zu mehreren Häusern in der Kasbah, weil von dort angeblich Steine und Brandflaschen auf das jüdische Viertel und einen Kindergarten geworfen worden waren. Auf die Frage, wie die Familien nun ihre Häuser betreten oder verlassen sollen, sagt der zuständige israelische Offizier lakonisch: „Sie können über die Dächer ihrer Nachbarn klettern.“

Familie Barak befürchtet sogar, ihr Haus aufgeben zu müssen. „Wir sind von allen Seiten eingeschlossen“, sagt Familienoberhaupt Hischam. „Wir befinden uns praktisch im Gefängnis.“ Betroffen ist auch die Familie Schahin. „Wir waren im Haus, als die Soldaten die Tür am äußeren Eingang versiegelten“, sagt die junge Schadia. „Erst einen halben Tag später haben die Soldaten nach Protesten meines Vaters die Tür wieder freigegeben.“ Andere Anwohner des Viertels beklagen, über Nachbargrundstücke und Dächer klettern zu müssen, um ihre Wohnungen zu erreichen.

Die israelische Armee hat einen weiteren Militärposten auf dem Dach eines palästinensischen Hauses errichtet. Soldaten bauten eine eiserne Brücke zu einem Nachbarhaus, das Teil der Siedlungsbauten von Avraham Avinu ist. Nach Angaben des Direktors für die Restaurierung der Kasbah, Chalid Kawasmeh, ist jetzt die Arbeit an 22 Häusern in der Altstadt gefährdet. „Es ist überdeutlich“, sagte er, „daß die israelische Regierung und die Siedler ihre Aktionen miteinander abstimmen, um die Siedlungen im Zentrum Hebrons auszudehnen.“

Bürgermeister Mustafa Natsche ist verärgert, weil die Schuhada-Straße immer noch gesperrt ist. „Die Situation ist unmöglich. Wir haben pro Tag wirtschaftliche Einbußen von 10.000 Dollar“, sagt er. Hebron habe eine vielfältige Wirtschaft im Stahl- und im Hausbau, in der Glasbläserei und in der Keramik. Offene Grenzen und volle Bewegungsfreiheit seien wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten. Mit einer energischen Geste macht er deutlich, daß die Siedler die Stadt verlassen sollen: „Es sind Extremisten, die gehören nicht hierhin.“

Die Siedler kamen 1969 nach Hebron, angeführt von dem aus Deutschland stammenden Rabbi Mosche Levinger. Sie quartierten sich in einem Hotel in der Altstadt ein und weigerten sich, es wieder zu verlassen. Aus der Hotelbesetzung wurde mit Genehmigung der Regierung eine Siedlung. Die Siedler beriefen sich dabei auf ehemaliges jüdisches Eigentum. 1929 war die jüdische Gemeinde in Hebron Opfer eines Massakers geworden, mehr als 60 Menschen verloren ihr Leben. Die Überlebenden wurden von der damaligen britischen Mandatsverwaltung evakuiert.

Haim Hanegbi, einer der Nachkommen der Überlebenden des Massakers, spricht den Siedlern das Recht ab, in seinem Namen zu agieren. „Sie handeln keineswegs in unserem Auftrag“, sagt er. „Viele Araber in Hebron haben damals den Juden geholfen und sie gerettet. An diese Tradition gilt es anzuknüpfen.“

Doch die Voraussetzungen dafür standen nie gut in Hebron. Nach einem Anschlag auf die Siedler zu Beginn der 80er Jahre, bei dem vier Jeschiva-Studenten getötet wurden, deportierten die israelischen Besatzungsbehörden den Bürgermeister, Fuad Kawasmeh, und seinen Kollegen Muhammad Melhem aus der Nachbargemeinde Halhul. Anfang 1994 erschoß der Israeli Baruch Goldstein aus der nahegelegenen Siedlung Kiriat Arba 29 Palästinenser in der Ibrahim-Moschee. Bei den anschließenden Straßenschlachten starben noch einmal über ein Dutzend Palästinenser.

Der Jahrestag des Massakers ist Anlaß zu erneuten Steinwürfen und Protesten palästinensischer Jugendlicher. Sieben von ihnen werden dabei von israelischen Kugeln verletzt. Das Ritual ist immer dasselbe. Die Taschen vollgepackt mit Steinen, versammeln sich die Jugendlichen rund 30 Meter vom Zaun entfernt. Nach den ersten Steinwürfen bezieht die israelische Armee Stellung. Aus der Deckung der Hauswände feuert sie gummiummantelte Stahlgeschosse und Tränengasgranaten. In Sekundenschnelle leert sich die Gasse. Nach 10 oder 15 Minuten preschen die Soldaten vor, die palästinensischen Jugendlichen laufen davon. Wer erwischt wird, landet auf dem Boden eines Armeejeeps. Wiederholungstäter erwartet eine Haftstrafe zwischen einem und drei Jahren.

Etwa 70 internationale Beobachter sollen die Situation entschärfen. Doch mehr als beobachten, notieren und berichten können sie nicht. Ihre Aufzeichnungen liefern sie an das gemeinsame israelisch-palästinensische Militärkomitee ab. Ein israelischer Soldat kontrolliert gerade einen Palästinenser, der die Schuhada-Straße betreten möchte. Er steht mit erhobenen Händen an der Hauswand. Der Soldat tastet ihn ab. Schläge gibt es diesmal nicht. Doch ein skandinavischer Beobachter bemerkt bitter: „Die Soldaten benehmen sich selten gut. Es gibt viele Beschwerden.“

Ein israelischer Soldat, auf Posten in der menschenleeren Schuhada-Straße, ist anderer Meinung. „Die Palästinenser greifen nicht nur mit Steinen an“, sagt er, „sondern auch mit Messern. Nachts werden Brandflaschen geworfen.“ Zimperlichkeit könne sich die Armee daher nicht leisten.

An jedem Schabat kommen Hunderte Israelis nach Hebron, um ihre Solidarität mit den Siedlern zu bekunden. Unbekümmert flanieren sie mit Kind und Kegel die Schuhada-Straße entlang, in demonstrativem Bewußtsein, daß dieser Teil der Stadt ihnen gehört. Ein großes Transparent an einem Gebäudekomplex „Avraham Avinu“ verkündet ihre Überzeugung: „Dieses Haus ist jüdisches Eigentum. Es wurde 1929 von den Palästinensern geraubt.“ Daß auch die Palästinenser ihre Besitztümer und Villen in West-Jerusalem, in den Stadtvierteln Old Katamon und Abu Tor, mit demselben Argument zurückverlangen könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn.

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