: Das Hämmern im Kopf
Fast jedes neunte Kind leidet unter chronischen Kopfschmerzen. Unwissenheit bei Eltern, Lehrern und Ärzten führt häufig zu falschen Diagnosen ■ Von Karin Kasböck
Das Zimmer ist verdunkelt, Türen und Fenster sind verschlossen. Besuch ist das letzte, was Kathrin jetzt gebrauchen kann. Unbeweglich liegt die Sechzehnjährige im Bett, die Wärmflasche am rechten Ohr, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen. Die Schmerzattacken kommen regelmäßig, Woche für Woche. Zwei Tage lang verkriecht Kathrin sich dann in ihrem Zimmer. Zusammengerechnet pocht ihr Kopf im Migränerhythmus bereits 1.248 Tage – bei der Geplagten zwölf Lebensjahre lang.
Der Schmerz weckt sie an bestimmten Tagen pünktlich um sechs Uhr früh und hält sich, wenn sie nicht zu Schmerztabletten greift, den ganzen Tag. Er zieht sich pulsierend-pochend über die gesammte rechte Gehirnhälfte. „Die Seite wird dann richtig taub von diesem stechenden Schmerz. Aufstehen und zur Schule gehen kann ich an einem Migränetag nur, wenn ich morgens zwei Aspirin einwerfe. Nehm' ich nichts, ist der Schmerz bis zum Spätnachmittag so stark, daß ich im Bett bleiben muß. Ich versuche dann durchzuschlafen. Früher war das noch viel schlimmer. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich mußte mich regelmäßig übergeben. Seit meiner Pubertät, also so mit elf, sind die Anfälle kürzer und leichter.“
Die Pubertät setzt eine Zäsur. Maßgeblich beteiligt am Migräneverlauf ist der Hormonhaushalt. Bis zur pubertätsbedingten Umbruchphase verteilt sich die Krankheit gleichmäßig auf Mädchen und Jungen. Erst dannach verschiebt sich das Verhältnis zuungunsten der Frauen. Von den geschätzten acht Millionen Migränekranken in Deutschland sind immerhin zwei Drittel weiblichen Geschlechts. Welchen Anteil an diesem Umbruch die einzelnen Hormone haben, konnte durch Untersuchungen bisher nicht geklärt werden. Auch die Versuche, mit hormonellen Behandlungen die Anfälle zu mildern, hatten bis jetzt keinen Erfolg.
Eine repräsentative Befragung – durch Wolfgang-Dieter Gerber von der Kieler Universitätsklinik – an schleswig-holsteinischen Schulen ergab, daß bei 20 bis 40 Prozent der Kinder hartnäckige Kopfschmerzen auftreten. Ähnliche Studien zeigten, daß immerhin acht bis elf Prozent der Schülerinnen und Schüler an Migräne leiden. Häufig wird die Krankheit nicht erkannt. Nur bei jedem fünften Migräne- kind wurde die chronische Krankheit auch diagnostiziert. Das ergab eine in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio durchgeführte Studie.
„Es kommt vor, daß Kinder, die über anhaltende Übelkeit klagen, am Blinddarm operiert werden, weil Ärzte nicht nachhaken oder uninformiert sind“, erklärt der Neurologe Konrad Taubert aus Neubrandenburg. Die meisten seiner kleinen PatientInnen kommen erst nach mehreren Fehldiagnosen in seine Praxis. „Für viele Ärzte ist Migräne immer noch eine Erwachsenenkrankheit, oder sie verharmlosen sie sogar als Frauenkrankheit.“
Dabei sind die ersten Studien über Migräne bei Kindern bereits vor 30 Jahren, in Schweden, veröffentlicht worden. „Migränekranke Kinder haben keine Lobby im Forschungsbereich, weil sie selten medikamentös therapiert werden“, erklärt sich Gunther Haag von der Elztal-Klinik das Desinteresse seiner Kollegen. „Jetzt erst wird das Thema im Zusammenhang mit Suchtprävention groß aufgerollt.“
Kinder, aber vor allem Jugendliche mit Migräne seien, so Haag, für Drogen besonders empfänglich, weil sie sich davon Schmerzlinderung versprächen. Seit diese Verknüpfung von Schmerztabletten und Sucht offenbar wird, sei auch die Drogenforschung an der Thematik interessiert.
Die Krankeit wird als solche leider oft auch von den Eltern und Freunden nicht ernst genommen und als Vermeidungsstrategie abgetan. „Willst wohl die Schule schwänzen“, „Drückeberger“ oder „Typisch Mädchen“ sind häufige Rückmeldungen. Viele Kinder und Jugendliche erzählen wiederum aus Angst vor Ablehnung oder Stigmatisierung ihrerseits nichts von dem peinigenden Chronikschmerz.
Bei Kathrin war das anders, weil ihre Mutter – schlimmer noch als sie selbst – unter chronischem Kopfweh leidet. Kein seltenes Phänomen: Ist die Krankheit erst einmal diagnostiziert, wird häufig festgestellt, daß auch andere Familienmitglieder darunter leiden. Deshalb schließen jüngere Forschungsteams gleich die ganze Familie in ihre Untersuchungen mit ein.
Der Mediziner Wolfgang-Dieter Gerber hat herausgefunden: „Ein genetischer Defekt scheint für das Auftreten der Migräne verantwortlich zu sein. Das heißt aber noch lange nicht, daß jeder Genträger die Krankheit tatsächlich bekommt. Kinder mit entsprechendem Gendefekt sind zwar prädistiniert, aber Umwelt und ihr eigenes Verhalten spielen für den Krankheitsverlauf eine wichtige Rolle.“ Migräne werde zwar nicht von Umweltfaktoren verursacht, aber stark davon beeinflußt. Einseitige Ernährung, Wetterumbrüche und Veränderungen im Lebensrhythmus gelten genauso wie Streß als potentielle Auslöser und Verstärker der Krankheit. „Viele betroffene Kinder sind von Geburt an hyperaktiv, äußerst reizempfindlich, oft ehrgeizig und sensibel und besonders vor einer Attacke extrem überdreht“, so der Kieler Professor.
„Kinder mit Allergien leiden typischerweise an sehr häufigen und schweren migräneartigen Anfällen“, führt Raymund Pothmann, Neuropädiater an der Kinderklinik in Wuppertal, noch an. Besonders Aroma- und Konservierungsstoffe sowie Geschmacksverstärker stünden im Verdacht, Migräneanfälle auszulösen.
Nach wie vor sind die Ursachen von Migräne nicht bekannt. Gesichert ist lediglich, daß hinter dem Migränesymptom eine Überaktivität der Hirnrinde steht. Bedingt durch eine übermäßige Ausschüttung von Streßhormonen, die vom ersten kopfschmerzfreien Tag bis zum nächsten Anfall ansteigt, nimmt die Hirnaktivität zu. Während einer Migräneattacke nimmt die Hirnaktivität dagegen ab, und die verengten Blutgefäße werden abrupt erweitert. Der Körper verschafft sich eine dringend notwendige Ruhepause.
„Einem meiner Patienten habe ich mal über einen längeren Zeitraum hinweg die Wochenenden gestrichen. Er hatte in regelmäßigem Rhythmus durchgearbeitet. Tatsächlich war die Migräne dann nach einigen Wochen weg. Natürlich hat er diese Therapiemaßnahme bald wieder aufgegeben; aber damit kehrte auch seine Wochenendmigräne zurück.“ Therapieversuche à la Konrad Taubert sind nicht immer nachahmenswert. Das Beispiel macht aber deutlich, was für die kleinen und großen MigränepatientInnen so wichtig ist: Ruhe, Routine und Regelmäßigkeit.
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen müssen lernen, positiv mit ihrer Krankheit und anders mit Reizen umzugehen. Mittels Techniken wie autogenes Training üben sie, Entspannung bewußt, selbständig und gezielt einzusetzen. Manchmal ist es nötig, PsychotherapeutInnen für Gesprächstherapien, Biofeedback, Hypnotherapie oder Akupunktur heranzuziehen.
Weniger spektakulär, dafür um so nützlicher: Bewegung. Ausdauersportarten wie Schwimmen oder Wandern wirken streßabbauend und entspannend. Letztlich müssen die Kinder und Jugendlichen selbst herausfinden, auf welche Therapien sie ansprechen. Der über die deutsche Schmerzhilfe bestellbare „Kinderkopfschmerzkalender“ mit Janosch-Aufklebern ist ein gutes Instrument zur Diagnostik und Therapie der kindlichen Kopfschmerzen. Auch Akupunktur und Neuraltherapien haben sich positiv bewährt. Am effektivsten scheint es, Eltern und Geschwister gleich mitzubehandeln, weil sie oft selbst betroffen sind oder zum krankheitsunterstützenden Umfeld gehören.
Kathrin hat zusammen mit ihren Eltern viele Ärzte und Ärztinnen aufgesucht. Von Massage über Akupunktur bis hin zu Spezialdiäten hat das Mädchen verschiedenste Therapieformen über sich ergehen lassen – ohne spürbaren Erfolg. Sie fühlt sich aber inzwischen nicht mehr sonderlich von der Krankheit beeinträchtigt, hat also ihre Form eines positiven Umgangs gefunden.
Auch für sie war wichtig: Je früher die Diagnose bekannt ist, um so schneller kann therapeutisch und psychotherapeutisch reagiert werden, desto wahrscheinlicher ist auch ein positiver Krankheitsverlauf. Keine der angebotenen Therapien vermag jedoch die Migräne zu heilen.
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