Im Wahlkampf hat Schröder Rot aufgelegt

Vor 20 Jahren wurde Gerhard Schröder zum Juso-Bundesvorsitzenden gewählt. Damals bezeichnete er sich als „konsequenten Marxisten“, im niedersächsischen Wahlkampf besinnt er sich auf seine frühere Rhetorik  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Endlich zieht er ein, der Retter von Stahlwerk und Stadt. „O when the saints go marchin' in“ schmettern die Blechbläser von den „Red Onions“. Im Takt, wie ein Karnevalsprinz, schwenkt Gerhard Schröder die rechte Hand hin und her, als er sich den Weg auf die Bühne gebahnt hat. Es ist ein Heimspiel. Die tausend Menschen in der Auslieferungshalle von MAN in Salzgitter sind von den SPD-rot gedeckten Tischen aufgestanden, feiern den Wahlkämpfer schon, bevor der auch nur ein Wort gesagt hat.

Zuerst drei Lobeshymnen der Betriebsräte von MAN Salzgitter, von VW, und nicht zuletzt von der Preussag Stahl AG, die Schröder gerade vorübergehend reverstaatlicht hat. Der Matador des Abends braucht dann eine gute Weile, um sich warmzureden, um in der Halle erneut den Jubelpegel seines Einmarsches zu erreichen. „Bei Preussag Stahl möchten wir gerne, daß die Musik weiter in Salzgitter gespielt wird“, verteidigt Schröder seine Entscheidung, dem österreichischen Unternehmen Voest Alpine das Salzgitteraner Stahlunternehmen vor der Nase wegzukaufen. Der Stahlmarkt sei in Bewegung und Arbeitsplätze würden zuerst dort verschwinden, wo nicht die Hauptverwaltungen der Unternehmen liegen.

Die Stahlwerke sind für die 120.000-Einwohner-Stadt Salzgitter, was VW für Wolfsburg ist. Für Schröder gehören „die Stahlwerke zu Salzgitter“. Und diesen Grundsatz hätte er wohl nur bei Strafe eines Konflikts mißachten dürfen, der ihm den Wahlerfolg am 1.März und die Aussichten auf die SPD-Kanzlerkandidatur sehr wohl hätte kosten können. Das Stahlunternehmen, das mit seinen Standorten Salzgitter, Peine und Ilsenburg 13.000 Beschäftigte zählt, hat die Bundesregierung erst 1989 aus Bundesbesitz an die Preussag privatisiert. Als die Verkaufsabsichten der Preussag ruchbar wurden, waren die Beschäftigten sofort kampfbereit. Nach Angaben der IG Metall hat die Preussag 1989 für 2,4 Milliarden ein Stahlunternehmen gekauft, das über liquide Mittel von 2,5 Milliarden verfügte und dazu etwa 30.000 Wohnungen im Wert von etwa 6 Milliarden besaß. Die Stahlwerke haben zudem Jahr für Jahr Gewinne an die Preussag- Mutter überwiesen, zuletzt über 100 Millionen. Unter dieses Ausschlachten, das den Einstieg der Preussag in die Tourismusbranche erst ermöglichte, hat Schröder mit seiner Reverstaatlichung nur den Schlußpunkt gesetzt. Für 1,06 Milliarden kauft das Land nun die Stahlwerke zurück – ohne die dazugehörigen Wohnungen.

Aus dem Gewitter, das da in Salzgitter aufzog, hat der Ministerpräsident nun seinen Wahlkampfschlager gemacht. Am aufpolierten Macherimage können sich die Konkurrenten von CDU und Grünen derzeit nur abarbeiten. Das Thema Preussag Stahl ist für Arbeitnehmer genauso gut wie für Handwerksmeister, auch wenn Gerhard Schröder seine Rede den jeweiligen Adressaten durchaus anpaßt.

In Salzgitter bleiben die Stahlwerke und die eigene Ausbildungsplatzkampagne die einzigen landespolitischen Themen, ansonsten nimmt sich der SPD-Politiker die Krise in Südostasien und den Bundeskanzler vor. Das alles durchzieht ein traditionell sozialdemokratischer Grundton, den Gerhard Schröder seit langem nicht mehr angeschlagen hat. Hatte dieser Ministerpräsident nicht noch vor einem halben Jahr in Dresden wirtschaftspolitische Thesen vorgelegt, die der Flexibilisierung und Entstaatlichung das Wort redeten? War er nicht 1995 sogar seines Posten als wirtschaftspolitischer Sprecher der Bundes- SPD enthoben worden, weil er auf dem Satz beharrte, es gebe „keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik“? Jetzt zieht er in Salzgitter wie im Bundestag gegen die Bonner Dilettanten vom Leder, die in Reverstaatlichung des Stahlwerks einen ordnungspolitischen Verstoß sehen.

Schröder wettert gegen „die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager, wie sie Helmut Kohl betreibt“. Ganz der Genosse, fordert Schröder auch noch „ein festes Bündnis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zusammen mit den Bauern und Handwerkern, gegen die, die nur eine schnelle Mark machen wollen“. Hat sich da die Erkenntnis durchgesetzt, daß der SPD-Kanzlerkandidat doch nicht allein durch gewogene Presseorgane bestimmt wird?

Heute genau vor 20 Jahren ging der Name Gerhard Schröder erstmals bundesweit durch die Nachrichten. Am 12.2. 1978 wählten die Jungsozialisten in Hofheim bei Frankfurt den nach eigener Einschätzung „konsequenten Marxisten“ zu ihrem Bundesvorsitzenden. Der damals 33jährige „Antirevisionist“ sah sich noch links von den Stamokap-Jusos, die vorher auf Konfliktkurs zur Mutterpartei gegangen waren, und führte zur Freude seines Förderers Willy Brandt die Jugendorganisation in den Schoß der Partei zurück. Diesem dem eigenen Fortkommen förderlichen Pragmatismus ist Schröder treu geblieben. Um seine Chancen auf die SPD-Kanzlerkandidatur zu wahren, muß er am 1.März die absolute SPD-Mehrheit im Niedersächsischen Landtag verteidigen. Mit 44,3 Prozent hatte die SPD 1994 ihr bestes Landtagswahlergebnis seit 1970 erzielt.

Doch danach hatte der Ministerpräsident nicht nur die Lehrer als „faule Säcke“ beleidigt und sie mit Arbeitszeitverlängerung und Kürzungen im Bildungsbereich weiter verprellt. Auch zwischen Landesregierung und Gewerkschaften war Eiszeit, seit Schröder vor zwei Jahren als erster Länderchef die Bemühungen um ein Bündnis für Arbeit scheitern ließ, anschließend im Landesdienst die 40-Stunden-Woche wieder einführte und sich später innerparteilich auch noch gegen eine Ausbildungsplatzabgabe querstellte. Die niedersächsischen Gewerkschaften streckten bereits ihre Fühler zu den Grünen aus, und die machten noch Anfang 1997 ein Bündnis für Arbeit zu ihrer Hauptwahlkampfforderung. Doch seit dem Kauf von Preussag Stahl sind Schröder und die IG Metall wieder ein Herz und eine Seele. Die Veranstaltungen der Initiative „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für Gerhard Schröder“ wie bei MAN in Salzgitter sind voll wie nie zuvor. Der „Genosse der Bosse“, der die Standortdebatte in die SPD hineinträgt, ist passé. Zumindest bis zum Wahltag hat Gerhard Schröder wieder SPD-Rot aufgelegt.