Kommentar: Nichts gelernt
■ Algerienreise: Die Kritik an Cohn-Bendits Auftritt verrät Geschichtslosigkeit
Wer darf anläßlich offizieller Besuche demokratischer Politiker in einem diktatorisch regierten Land mit wem sprechen? Nötigt nicht die Achtung vor der staatlichen Souveränität des Gastgebers den Gästen Zurückhaltung beim Umgang mit regimekritischen Oppositionellen auf?
Solche Fragen werden aufgeworfen, nachdem Dany Cohn-Bendit (als Mitglied einer Europaparlamentariergruppe) in Algerien aus der Reihe tanzte, mit dem Chef der verbotenen Islamischen Heilsfront sprechen, Orte des Massakers sehen wollte. Nicht diese Forderungen, sondern die Zweifel an ihrer Berechtigung bilden den Skandal. In Algerien und „bei uns“. Alles schon vergessen? Den erbitterten Streit um den Umgang mit den Mächtigen des Realsozialismus bei offiziellen Reisen in den „Ostblock“? Offensichtlich gibt es aus der Geschichte nichts zu lernen. Denn sonst müßte von der Kritik osteuropäischer demokratischer Intellektueller, die nahezu unisono am Auftreten vieler westlicher Politiker geübt worden ist, irgendwas hängengeblieben sein.
Man antworte bitte nicht, die Analogie zu Osteuropa sei an den Haaren herbeigezogen, weil Ali Benhadj, Chef der FIS, kein demokratischer Politiker sei. Das hat Cohn-Bendit nie behauptet, er hat nur mit Recht auf die demokratische Legitimation der FIS hingewiesen. Einmischung in die inneren Angelegenheiten des souveränen Algerien? Liebes Gottchen, von nichts anderem handelten die Gegenattacken regimefrommer Apologeten in Osteuropa. Als ob nicht jeder Souveränitätsanspruch seine Grenze findet, wenn Menschenrechte dauernd und massiv verletzt werden. Verschweigen der „eigenen“ Schuld, damals der Untaten der deutschen Faschisten, heute der Kolonialmacht Frankreich? Ein Entlastungsmanöver, nationale Sippenhaft gegenüber jenen, die aus dem Verbrechen wie dem Schweigen der Vorväter gerade die richtige Konsequenz gezogen haben: zu reden!
An Cohn-Bendits Verhalten ist nichts Falsches zu entdecken, trotz der onkelhaften Belehrung der FAZ hinsichtlich des Benimms. Cohn-Bendit gehört zu den Politikern, die sich in ihrem humanen Impuls seit 30 Jahren treu geblieben sind, auch hinsichtlich Algeriens. Wenn einer das Recht hat, die Dinge unverblümt, meinetwegen unhöflich, beim Namen zu nennen, dann er.
Christian Semler
Bericht und Interview mit Cohn-Bendit Seite 10
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