: Von der wunderlichen Lust auf ein schönes fettes Meerschwein
■ Märchen der Fremdheit: Wie den Soziologiedoktoranden aus Ecuador das Heimweh einmal in eine Zoohandlung trieb. Ein Meerschwein sollte ihn in seiner Sehnsucht trösten. Doch sein Wunsch zerbrach an den hiesigen Gebräuchen. Und so landete er in einer Schlachterei, wo er dann doch noch einen Komplizen traf
Alles begann damit, daß Juan Recalde, ein Soziologiedoktorand aus Ecuador, seinen ersten richtigen Heimwehanfall bekam. Die ersten vier Monate in Deutschland hatte er in Bremen bei einem Deutschkurs verbracht. In dieser Zeit, einer Art Zwischenstation, hatte die wirkliche Auseinandersetzung mit der neuen Realität noch nicht stattgefunden. In der Hansestadt hatte Juan zwar viel Neues erlebt, aber davon fast nur die positiven Aspekte wahrgenommen. Außerdem hatte er die Möglichkeit, seine Erlebnisse mit Leuten zu teilen, die in einer ähnlichen Lage waren wie er.
Jetzt war es damit aber vorbei. Der Deutschkurs war zu Ende, und seit knapp zwei Monaten lebte Juan in Bielefeld, wo er seinen Studienplatz hatte. Im Studentenheim wohnten viele andere junge Leute. Einige waren Ausländer, es gab sogar ein paar Lateinamerikaner. Sie lebten aber schon länger in Deutschland, kamen einigermaßen zurecht, und er fühlte sich ziemlich einsam.
An jenem Vormittag des Heimwehanfalls spazierte Juan melancholisch und ziellos durch die Straßen Bielefelds, wobei er zufällig an einer Zoohandlung vorbeiging. Gedankenverloren blieb er vor dem Schaufenster stehen und guckte sich die meist schlafenden Tiere an... Kaninchen, Hamster, Meerschweine... Ein Meerschwein! Das wäre genau das Richtige für diesen grauen, nostalgischen Tag, dachte Juan plötzlich.
Der Verkäufer war allein, und Juan, der sich im Deutschen noch nicht sehr sicher fühlte, freute sich darüber, ungestört reden zu können. „Ich hätte gern ein Meerschwein“, fing er an. „Gern. Was für eins?“ fragte der Verkäufer und fügte hinzu: „Ich habe ein paar wunderschöne Rosettenexemplare. Die sind zwar einen Tick teurer als die anderen, aber dafür sind sie wirklich schön.“ Die Frage des Verkäufers brachte Juan durcheinander, da er bisher gar nicht wußte, daß es verschiedene Rassen von Meerschweinen gab.
Er überlegte kurz, ob er sich das Rosettenmeerschwein angucken sollte, aber das Preisargument hielt ihn zurück. Außerdem dachte Juan, daß das Aussehen des Tieres vollkommen egal war, woraufhin er zum Verkäufer sagte: „Nein, vielen Dank. Ich würde lieber ein ganz normales mitnehmen. Über die Farbe müssen sie sich auch keine Gedanken machen. Jede Farbe ist mir recht.“
Der Verkäufer ging zu einem Käfig mit mehreren Meerschweinchenjungen und sagte zu Juan: „Am besten suchen sie sich selbst eins aus, die sind wirklich süß, diese winzigen Tierchen.“ „Für mich aber viel zu klein“ – sagte Juan – „ich würde lieber ein etwas kräftigeres Exemplar haben.“
Es war nicht das erste Mal, daß jemand ein ausgewachsenes Meerschwein kaufen wollte. Trotzdem überkam den Verkäufer ein komisches Gefühl, als er Juan zu einem anderen Käfig führte, in dem vier oder fünf Tiere schlafend lagen. Eigentlich wollte er fragen, ob es ein Männchen oder ein Weibchen sein sollte, aber er ahnte, daß wohl auch das Geschlecht keine Rolle spielen würde.
„Das sind genau die richtigen“, sagte Juan. Nachdem er sich die Tiere angeguckt und kurz überlegt hatte, wählte er eins aus. „Hübsches Tier. Männliche Meerschweine haben öfter dieses schöne dreifarbige Fell. Das hier ist ungefähr vier Monate alt“, informierte der Verkäufer, dem die Situation immer verdächtiger wurde. „Der Preis? Dreißig Mark“, antwortete er.
„Ganz schön teuer, der Spaß. So ein Ding kostet auf dem Markt in Quito nicht mal die Hälfte“, dachte der Ecuadorianer. „Aber was soll's? Ich will mir ja ein Geschenk machen.“ Er mußte aber weiter nachdenken, jetzt nicht mehr über den Preis, sondern über die vielen Unterschiede zwischen Ecuador und Deutschland. „Stell dir vor! Meerschweine im Zoogeschäft zu verkaufen! Und in diesem Land will ich die nächsten Jahre verbringen! Na ja, man wird sehen.“
Währenddessen erzählte der Verkäufer – ohne gefragt worden zu sein – alles mögliche über Ernährung, Sauberkeit und allgemeine Pflege der Meerschweine. Juan war so tief in Gedanken versunken, daß der Tierhändler zweimal nachfragen mußte, ob er auch Futter für das Meerschwein einpacken solle. Juan fand die Idee lustig. „Nein, danke“, antwortete er, um den Verkäufer über seine Absicht aufzuklären. „Ich will das Tier nicht füttern, ich will es selber essen.“ Der Verkäufer wurde blaß, blieb einen Moment wortlos und ging unter einem gemurmelten Vorwand ins Büro. Nach ein paar Minuten kam er zurück, fast gleichzeitig erschienen zwei Polizisten im Laden. „Das ist der Mann, der das Meerschwein essen will“, sagte er den Polizisten mit bebender Stimme.
Eine Viertelstunde später, auf dem Weg nach Hause, konnte Juan es noch immer nicht fassen. Sollte er sich gar noch darüber freuen, daß Meerschwein essen keine richtige Straftat ist? „Obwohl es eine sehr bedauerliche Angewohnheit ist“, wiederholte er die Worte der Polizisten. Oder „eine unmenschliche Tat, bei der ich nicht zum Komplizen werden will“, wie der Verkäufer hinzugefügt hatte. „Das Tier war sowieso nicht wirklich groß“, tröstete Juan sich, und kurz vor dem Studentenheim ging er in die Schlachterei, kaufte das größte aller Hühnerbeine und lächelte dem Schlachter komplizenhaft zu, als dieser „Guten Appetit!“ sagte. Pola lriarte Rivas
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