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■ Weder die Kommune noch ihr Gespenst werden zurückkommen, trotzdem sollte das „Manifest“ sorgfältig aufbewahrt werdenAbgestempelt

Die letzte Ausgabe des „Kommunistischen Manifests“, die der Dietz-Verlag zu Berlin, Hauptstadt der DDR, edierte, ist mit zwei nachträglichen Stempelaufdrucken versehen. Der auf dem Deckblatt lautet: „Bitte sorgfältig aufbewahren! 3.Oktober 1990“ Auf der Rückseite ist zu lesen: „Achtung! Vor weiterem Gebrauch unbedingt überarbeiten und ergänzen!“ Die beiden Aufdrucke sind Visa- Stempeln nachgebildet. Sie sollten die Einwohner der DDR, die so lange Pässe in die große, weite Welt des Kapitals entbehren mußten, für den Weg zur Vereinigung mit einem gültigen Reisedokument ausstatten. Wer immer diese beiden kleinen Kunstwerke entwarf, er handelte in Übereinstimmung mit den Autoren und gegen den Geist der Herausgeber. Denn „Klassiker“ zu sein war im Realsozialismus synonym für unberührbare Majestät, mithin für Nutzlosigkeit.

Aber kann ein Werk wie das „Kommunistische Manifest“ wirklich „überarbeitet und ergänzt“ werden? Seine helle Architektur, die überwältigende Kraft seiner Bilder, den bezwingenden Lakonismus seiner Schlußfolgerungen verdankt dieser Text dem Zugriff „aufs Ganze“. Mit einem höhnischen Triumphgesang auf den weltweiten Sieg der Bourgeoisie beginnt das Werk, mit der Aufforderung an die Arbeiter, sich weltweit zu vereinigen, schließt es. Aber der Zweikampf der beiden Antagonisten ist historisch nicht offen. Kämpfende Klassen, so räumen Marx und Engels in ihrem geschichtlichen Überblick ein, sind zwar schon gemeinsam untergegangen. Aber der Sieg des Proletariats ist unvermeidlich, er ist in die Geschichte eingeschrieben, Konsequenz der inneren Widersprüche, in denen sich die kapitalistische Produktionsweise verfängt.

Warum kann das Proletariat nicht anders, als revolutionär zu sein? Weil aus Not Notwendigkeit wird. Weil in seinem brutalen Zugriff auf die Existenbedingungen der Arbeiter das Kapital die Ausgebeuteten „frei“ macht – frei von jedem Eigentum, aber auch frei von ideologischen Bindungen, sei's an überkommene, vorkapitalistische Werte, sei's an die Hoffnung, sich im Kapitalismus erträglich einrichten zu können. Im „Manifest“ folgen Marx und Engels noch der Lohntheorie ihres Meisters Ricardo. Was die Arbeiter verdienen, bewegt sich am Existenzminimum – mit abnehmender Tendenz. Es bleibt den Proletariern nichts anderes übrig, als „ihre Köpfe gegenüber der Schlange ihrer Qualen zusammenzurotten“.

„Jeder Klassenkampf“, so statuieren die beiden Revolutionäre, „ist ein politischer Kampf.“ Zu diesem großartigen, zu diesem gewalttätigen Reduktionsmanöver können die beiden Revolutionäre nur gelangen – weil sie zur Zeit der Niederschrift des Manifests noch keine „Marxisten“ sind. Noch ist die marxistische Werttheorie nicht entdeckt; noch ist die Möglichkeit, in bestimmten Phasen der kapitalistischen Entwicklung den Preis der Ware Arbeitskraft durch Klassenkampf zu erhöhen, nicht etabliert; noch ist das Geheimnis des tendenziellen Falls der Profitrate nicht entschlüsselt. Und noch ist keine Rede von der relativen Verelendung, deren Problem ja bekanntlich darin besteht, daß man sie nicht auf der Haut spüren kann. Mit einem Wort: Noch ist nicht eingeräumt, daß zumindest Teile des Proletariats mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Später, als Marx Marxist war (er wollte es eigentlich nie sein, er sagte: „Moi, je ne sius pas Marxiste“), hat er gesehen, wie problematisch der angeblich gesetzmäßige Zusammenhang von kapitalistischer Krise und proletarischer Bewußtwerdung in Wirklichkeit ist. Preisgegeben hat er diesen Zusammenhang nie.

„Unter der Arbeiterschaft entstand nicht jene Einheitlichkeit der Interessen, jene Einmütigkeit, wie sie seinerzeit von marxistischer Seite erhofft wurde. Im Gegenteil, die Arbeiterschaft verzehrte ihre Kräfte in inneren Kämpfen, die Arbeiterpartei spaltete sich, und zwischen den beiden Parteien standen Enttäuschte, Resignierte und Untätige.“ Das schrieb die orthodoxe Marxistin Natalie Moszkoewska im Zweiten Weltkrieg in vollständiger Vereinsamung.

Noch einmal, in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts, lebte die Hoffnung auf, daß die Unterdrückten den alten Plunder von sich abwerfen, daß sie im Klassenkampf zu revolutionärem Bewußtsein kommen könnten: nicht im Kapitalismus, sondern im Sozialismus. Kein Zitat hat die chinesische Kulturrevolution so beflügelt wie die berühmten Sätze des Manifests: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.“ Dieser Großversuch, diese „Revolution in der Seele“, unternommen mit Mitteln des äußersten Terrors, hinterließ eine Wüstenei der Werte. Es hat sich herausgestellt, daß der Wunsch nach „Freiheit und Gerechtigkeit“ doch „allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam ist“, ganz im Gegensatz zu dem, was Marx und Engels im „Manifest“ gegenüber den utopischen Sozialisten einwandten.

Heutzutage ist uns zwar der Kapitalismus erhalten geblieben, aber das Proletariat abhanden gekommen. Nicht nur der Kommunismus verschwand, sondern sogar das furchterregende Gespenst des Kommunismus, das in den Eingangssätzen des Manifests eingefangen wurde, nachdem es zwei Jahrzehnte lang in der Vormärz- Literatur herumgespukt hatte. Es war dieses Gespenst, das unseren Kapitalisten selbst dann noch Angst einjagte, als die Kommunisten an der Macht sich längst damit begnügten, in der morschen Festung „Realer Sozialismus“ solang es irgend geht dahinzuvegetieren. Daß das Gespenst jetzt fehlt, bekommen wir in unseren Breitengraden jeden Tag zu spüren.

„Komm zurück, Kommune!“ hieß es ironisch im Polen der frühen 90er Jahre. Weder sie wird zurückkommen noch ihr Gespenst. Aber das „Kommunistische Manifest“ muß trotzdem sorgfältig aufbewahrt werden, wie der Stempelauftrag es verlangt. Nicht wegen oberflächlicher Analogien im Zeitalter der Globalisierung. Sondern wegen des großen, genialen Satzes, den Marx und Engels ihrem gedachten Gegenüber, der Bourgeoisie, entgegenschleuderten: „Die interessierte Vorstellung, worin Ihr Eure Produktions- und Eigentumsverhältnisse aus geschichtlichen, in dem Lauf der Produktion vorübergehenden Verhältnissen in ewige Natur- und Vernunftgesetze verwandelt, teilt Ihr mit allen untergegangenen herrschenden Klassen.“ So wie es ist, bleibt es eben doch nicht. Christian Semler

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