: Wahrheit ist in Belgien sehr, sehr relativ
Eineinhalb Jahre nach der Affäre Dutroux glauben die Belgier einerseits alles, andererseits gar nichts und trauen niemandem mehr, schon gar nicht ihren Politikern. Aber auch die Entrüstung ist vorbei ■ Aus Brüssel Alois Berger
In jedem anderen Land hätte ein Buch wie die jüngste Veröffentlichung des Luxemburger Journalisten Jean Nicolas eine Staatskrise ausgelöst. In seinem Buch über Belgien zitiert Nicolas aus Polizeiakten, nennt Zeugen, die bei den sogenannten „ballets roses“ dabei waren, den Sexparties in den 80er Jahren, bei denen Minderjährige sexuell mißbraucht wurden. Prominentester Teilnehmer, schreibt Nicolas, war Prinz Albert, der heute König von Belgien ist. Das Erstaunliche an dem Buch sind nicht so sehr die Details, sondern die matte Reaktion, die es in der Öffentlichkeit ausgelöst hat. Die meisten Belgier halten inzwischen alles für möglich, und alles Mögliche für erlogen.
In den eineinhalb Jahren seit der Festnahme des Kinderschänders Marc Dutroux und seiner Komplizen hat das belgische Fernsehen viele hundert Stunden live aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß übertragen. Der Ausschuß sollte die Frage klären, warum die Polizei dem einschlägig vorbestraften Dutroux trotz zahlreicher Hinweise nicht auf die Spur kam, wie es also möglich war, daß Dutroux über Jahre Kinder entführen und in seinem Keller gefangenhalten konnte. Unglaubliche Fahndungspannen kamen ans Licht, die sich mit Schlamperei und Unfähigkeit allein nicht erklären lassen. Und so spitzte sich alles auf die Frage zu: Wer hat die Hand über Dutroux gehalten und warum? Justizbeamte gerieten ins Fadenkreuz. Konkurrierende Polizeistellen beschuldigten sich gegenseitig, Informationen zurückgehalten zu haben. Der Chef der Brüsseler Justizpolizei wurde entlassen, weil er seine Tochter verführt haben sollte. Er hat sich inzwischen auf seinen Posten zurückgeklagt, nachdem der Vorwurf geplatzt war. Plötzlich tauchte ein Dossier auf, das den sozialistischen Vizepremier als Mitglied eines Pädophilenrings beschrieb. Wie sich herausstellte, hatten zwei Polizisten einen Strichjungen zu einer Falschaussage erpreßt.
Die Anschuldigungen haben System: Die Öffentlichkeit wird abgelenkt, und immer stehen dahinter auch andere Interessen. Der Abschuß des Polizeichefs sollte offensichtlich die Chancen der Gendarmerie stärken, bei der bevorstehenden Polizeireform die Oberhoheit zu bekommen. Und die Gerüchte um den König nützen vor allem ultrarechten Flamen, die ein unabhängiges Flandern fordern und denen der König dabei im Weg ist.
Die Wahrheit ist relativ geworden in Belgien. Jeder glaubt, was er glauben will. Vor einigen Monaten hat sich eine junge Frau bei der Polizei gemeldet, die seither als Zeugin X1 durch die belgischen Zeitungen geistert. Sie erzählte, daß sie als Minderjährige bei den „ballet roses“ mißbraucht wurde, daß sie dabei war, als ein seit 1981 vermißtes Mädchen ermordet wurde, weil sie aussteigen wollte. Hohe Persönlichkeiten seien bei den Sexparties dabeigewesen. Organisator soll Michel Nihoul gewesen sein, der bei der Dutroux-Affäre als Drahtzieher festgenommen wurde.
Die Hälfte der Belgier glaubt seitdem, den Schlüssel zur Dutroux-Affäre darin zu erkennen, daß Nihoul und Dutroux hohe Politiker in der Hand hatten. Die andere Hälfte hält X1 für eine verrückte Psychopathin. Obwohl sich X1 an viele Einzelheiten und Namen erinnert, hat die Polizei bisher nicht herausgefunden, ob die Geschichte stimmt. Und der Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses erlaubt allen, an ihrer Version festzuhalten.
Nach dem „aktuellen Stand des Wissens“ gebe es keine Beweise dafür, heißt es, daß Dutroux und Nihoul von oben beschützt worden seien. Sicher sei jedoch, daß die beiden Einfluß auf die Ermittlungen genommen hätten. In der Polizei wie in der Justiz seien Nachforschungen verschleppt und behindert worden von Personen, mit denen Nihoul und Dutroux Kontakt gehabt hätten. Ob sie auf eigene Faust gehandelt haben oder auf höheren Auftrag, sei nicht festzustellen gewesen.
Und so gehen die Spekulationen weiter. Hat Nihoul bei den „ballet roses“ vielleicht keine Politiker, sondern nur Polizisten von sich abhängig gemacht? Haben sich Beamte bei Autoschiebereien mit Dutroux verheddert? Schon 1996 wurde deshalb ein Hauptkommissar festgenommen, dann aber wieder freigelassen. Denn Nihoul und Dutroux hatten in Charleroi einen Gemischtwarenladen für alle möglichen Verbrechen geführt, Hehlerei, Autoschmuggel, Paßfälschung und eben auch Kinderhandel für pornographische Zwecke. Möglicherweise haben einige Polizisten von den weniger verwerflichen Geschäften profitiert, konnten dann aber auch bei den Ermittlungen wegen Kindesentführung nicht riskieren, daß Dutroux auspackt.
Und dann sind da noch ein paar Spuren, die doch wieder zu Politikern führen. Denn in den 80er Jahren hat Nihoul auch den großen Parteien ein paar Freundschaftsdienste erwiesen. Für die Konservativen hat er Wahlspenden eingesammelt, und den Sozialisten hat er geholfen, Bestechungsgelder in die Schweiz zu schaffen.
Kaum jemand in Belgien glaubt, daß das alles nichts damit zu tun haben sollte, daß ihn die Justiz solange mit Samthandschuhen angefaßt hat. Doch beweisen kann man es nicht, zumindest die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses konnten es nicht. Vor allem die Regierungsparteien sind mit dem Bericht zufrieden.
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