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Schlagerkönigin in der Provinz

■ Das Leiden der Seele in der Schlagerwelt: Ulrike Franke und Michael Loeken haben das Leben der Sängerin Renate Kern nachgezeichnet

Sie war die Königin der Provinz. Sie war ein Star und doch bodenständig. Sie wollte hoch hinaus und ist böse gefallen. Aber: „Lieber eine Königin in der Provinz“, sagt ihr früherer Toningenieur, der nun schon lange Ex-Produzent, Ex- Manager und Witwer ist, „als eine Niete in der Großstadt.“ Daß sich Renate Kern alias Nancy Wood drei Tage nachdem sie 1991 aus einer Nervenheilanstalt entlassen worden war, aufhängte, hat auch er nicht verhindern können. Neben ihrer Leiche fand man die Quittung für den Strick.

Das Leben des Schlagersternchens, die zur Countrysängerin mutierte, aber mit dem Leben auf der Bühne nie zurechtkam, ist eigentlich so gar keine westdeutsche Karriere, aber vielleicht gerade deshalb lernt man in „Und vor mir die Sterne – Das Leben der Schlagersängerin Renate Kern“ viel über die bundesdeutsche Gesellschaft seit den ausgehenden 60ern, als Kern ihre ersten Erfolge feierte. Und wenn es nur Erinnerungen auffrischt an mächtige Turmfrisuren, an Max Greger und Elfie von Kalckreuth, an eine Zeit aus Potpourries und Medleys, eine Zeit, als man tatsächlich der „ZDF-Hitparade“ entgegenfieberte. So kann man diese Dokumentation sehen, wenn man will, und das fast schon hysterische Kreischen in der Akademie der Künste, das die einschlägigen Symbole und Symptome begleitete, zeigte überdeutlich, daß nicht wenige dem gerne folgten.

Mit ihrem leicht zitternden Timbre fuhr sie Hit auf Hit ein, die auch schon mal rührend die Hippie-Ideologie in einen schrankwandbewehrten Wohnzimmerkontext übersetzten: „Alle Blumen brauchen Sonne“. Einen von Kern vorgeschlagenen Imagewechsel hin zu einer deutschen Piaf lehnte die Plattenfirma ab, solange das Landei-Erfolgsrezept noch funktionierte. Als die großen Umsätze ausblieben, war es zu spät, und sie wurde vom Produzenten- Ehemann zur Hausfrau zurückgestuft, die die Kunden des heimischen Aufnahmestudios mit belegten Broten verpflegen durfte. Dem folgte ein kurzer Ausflug nach Memphis, ein einmaliger Erfolg in den US-Country-Charts und der gescheiterte Versuch, dieses Momentum nach Deutschland zu übertragen. Nach drei Wochen Unterhaltungsdienst auf einer Fähre notiert sie in ihrem Tagebuch: „Countrymusik mit einer bulgarischen Tanzband ist auch mal was Neues.“

Feministisch läßt sich dieser Film lesen oder auch als psychosoziale Fallstudie, vor der Ulrike Franke und Michael Loeken allerdings in letzter Konsequenz zurückschreckten. Sie haben zwar eine bewunderswerte Fülle an Material zusammengetragen, sich mit Fans unterhalten, mit Verwandten und ehemaligen Kollegen wie Peter Orloff und Dieter Thomas Heck, die sich meist selbst entlarven, sie verwenden alte Fernseh- und Radioaufnahmen ebenso wie privates Super-8-Material.

Aus Briefen und Tagebuchaufzeichnungen und Songtexten mischen Franke und Loeken dazu einen Off-Kommentar, der zwar manchmal offensichtlich die heile Schlagerwelt mit den seelischen Leiden der Interpretin kontrastiert, aber exakt seine Absicht erreicht, obwohl sie – auch aus Rücksicht – noch lange nicht alles Material benutzt haben. Kerns Krankenakte durften sie nicht einsehen, sie wollten es auch nicht, wie sie nach der Vorführung zugaben. Es hätte wohl auch nichts Wesentliches enthüllt, was sich in dieser tristen Geschichte nicht schon von selbst erklärt. Thomas Winkler

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