Berlinale-Anthropologie
: Die immerwährenden Filmfestspiele

■ Wie Kino die Gemeinschaftsbildung fördert, läßt sich am Gesprächsstoff ablesen

Nein, er gehe nie hin, er versäume regelmäßig die Berlinale, sagte der junge Mann. Es falle ihm auch weiter kaum auf, wenn sie stattfindet: Seine Wege in der Stadt führen ihn so gründlich daran vorbei, daß die Berlinale unsichtbar bleibt.

Der junge Mann hat Philosophie studiert, geriet dann aber ins Geschäftsleben, recht erfolgreich – es verhält sich aber nicht so, wie sie jetzt denken möchten: der Philosophiestudent gehe regelmäßig ins Kino, der Geschäftsmann habe jeden Kontakt verloren.

Wir sprachen auf einer Vernissage miteinander, jetzt, diese Tage. Der junge Geschäftsmann ist der Freund des ausstellenden Künstlers seit der gemeinsamen Schulzeit. „Warum soll ich mich um die Karten anstellen?“ fragt der junge Geschäftsmann rhetorisch, „die Wettbewerbsfilme kommen doch sowieso gleich ins Kino, in den nächsten Wochen.“

Dann sprachen wir angelegentlich darüber, welche man unbedingt anschauen werde. Ich besaß eigentlich nur bei zweien Gewißheit: „Jackie Brown“ und „The Big Lebowski“ – nein, ganz sicher nicht „Good Will Hunting“, Robin Williams' vollbärtig-innige Gutmenschenseligkeit mache mir die Socken rutschen.

Aber in „Good Morning Vietnam“ sei der doch wirklich gut gewesen, wandte der junge Geschäftsmann ein, und ich mußte zustimmen. Er geht immer noch oft ins Kino. Ich gehe nur noch selten ins Kino. „Aber ich sehe viele Filme im TV – als Videokassetten.“ Und dann erzähle ich wieder von dem ausgezeichneten Video-Angebot der Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz, das zuvor der Kollege Lau entdeckt hatte. „Sie können sich noch einmal allein durch die ganze Filmgeschichte futtern.“ Beispielsweise „Menschen am Sonntag“; bei der Siodmak-Retrospektive im Astor lief der Film nur ein einziges Mal. „Ein richtiges Meisterwerk, das man gar nicht oft genug bewundern kann.“ Der junge Geschäftsmann wollte sichs merken.

Letzte Woche war ich in Zürich, Logiergast bei Thomas Bodmer, Lektor, Übersetzer, Kritiker. Während wir uns wieder nicht darauf einigen konnten, daß philosophische Theorie anhaltend die Aufmerksamkeit des Zeitgenossen verdient – „auch wenn ich persönlich mit Derrida überhaupt nichts anfangen kann“ –, schien mir diesmal Bodmers Abneigung gegen TV im Schwinden: so heftig begeistert erzählte ich von meinen Videoabenden. Und dann gin

gen wir ins Kino, es stieß noch der Kollege Köppel dazu, Abel Ferrara, „The Blackout“, ein grauenhafter Unfug. „Den Namen Ferrara kann man also streichen.“ Ganz schwach vom Ablachen und bestens gelaunt steuerten wir das indische Buffet in dem feinen Restaurant Hiltl an.

Wenn unsere kulturkritischen Mahner und Warner über den Verlust von Gemeinschaft und das Schwinden der sozialen Bindungskräfte schwadronieren, das Kino können sie dabei nicht vor Augen haben. Seit den traurigen Siebzigern, als es unsereinem mehrmals wöchentlich Trost und Lebensmut einflößte, hat seine Macht ununterbrochen zugenommen. Eigentlich sind jeden Tag überall Filmfestspiele; erwarteten damals die kulturkritischen Mahner und Warner die Zerstörung des Kinos durch TV, so muß man heute sagen: Umgekehrt. Längst ist das Fernsehen Teil der Kinowelt geworden, denn nichts anderes als Filme will das Publikum dort sehen. Daher die Macht von Leo Kirch, der so viele Abspielrechte besitzt.

Wie das Kino die Gemeinschaftsbildung fördert, zeigt nicht zuletzt der Gesprächsstoff, den es so freigiebig spendet. Wie gesagt, für die Schönheiten Luhmanns und Arthur C. Dantos konnte ich Thomas Bodmer wieder nicht gewinnen, aber wie „Das Schweigen der Lämmer“ als Ritterfilm funktioniert, mit Anthony Hopkins als Drache, der die Jungfrau (Jodie Foster), die gleichzeitig der Ritter ist, beschützt statt verschlingt – da kriegten wir wieder rote Ohren (und daß ich den Film als Kassette besitze und jederzeit sehen kann, „wie ein Buch aufschlagen“, das machte Bodmer doch – sagen wir: nachdenklich).

Hierher gehört auch die Geschichte von dem mühsamen Abendessen, das ich voriges Jahr in Köln mit einem österreichischen Kunsthistoriker durchzustehen hatte. Zäh bewegte sich das Gespräch von Anselm Kiefer zu Christian Boltanski zu Botho Strauß zu Robert Schneider – aber dann wechselten wir das Lokal und kamen, ehe wir es bemerkten, auf das Kino zu sprechen, „Hollywood ist die Klassik, und die Nouvelle Vague war die Romantik“ und so weiter und so weiter, und es wurde ein sehr, sehr lustiger Abend.

So brauchen sie nicht leiden. Wenn jetzt die Berlinale zu Ende geht, kann keine Trauer sein. Denn dann beginnen wieder die immerwährenden Filmfestspiele, die tagtäglich das Volk der Kinogeher zusammenführen. Michael Rutschky