Die groben Unterschiede

Der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu hat versucht, das Leiden im Neoliberalismus zu verstehen – mit einem präzisen Blick für soziale Hierarchien, der Ulrich Beck fehlt  ■ Von Martin Reeh

Sie haben nur eine Sorge: Männer. Die Heldinnen der deutschen Filmkomödien fahren Cabrio, wohnen im Loft und arbeiten freiberuflich als Architektin oder Journalistin. Probleme mit dem niedrigen Zeilenhonorar kennen sie nicht (schreiben ja auch nicht für die taz!), und wenn das Geld doch mal nicht reicht, machen sie einen Partyservice auf. Wohnort: natürlich München. Die bayerische Hauptstadt ist die beliebteste Klischeefabrik Deutschlands, mehr als die Hälfte der Deutschen würde gerne in München leben. Hier war die letzte ernstzunehmende Revolte die Bohemerevolution von 1919, der Polizeireporter der Süddeutschen Zeitung hieß lange Jahre Johann Freudenreich, und die Ausgegrenzten wohnen in Orten mit idyllischen Namen wie Hasenbergl. Ein Aufstand gegen den Neoliberalismus in München? Undenkbar allein schon deshalb, weil weder die Probleme der Ausgegrenzten noch die alltäglichen Sorgen der Mittelschicht im öffentlichen Diskurs vorkommen. Das München-Klischee heißt: Freizeit, Fitneß, Fun.

Auch Frankreich und insbesondere Paris leben mit einem Klischee: Liebe & Revolution. 1993 war davon allenfalls noch die Liebe übriggeblieben, die linken Hoffnungen waren von dem neoliberalen Diskurs Mitterrands und der Konservativen verdrängt worden. Allenfalls die Unruhen in den Banlieues sorgten für gelegentliches Aufsehen. In jenem Jahr legten Pierre Bourdieu und sein 17köpfiges Forscherteam die Studie „Das Elend der Welt“ vor, eine Untersuchung über das Leiden der Franzosen in den Zeiten des Neoliberalismus. 100.000 Käufer hat der Band seitdem gefunden, und er dürfte nicht unerheblich zu dem französischen Sonderweg im Maastricht- Europa beigetragen haben: starke soziale Bewegungen, die eine linke Regierung sowohl tragen als auch mit ihr im Streit liegen. Sogar die Arbeitslosen, die Ausgeschlossenen, die, die man keiner gemeinsamen Aktion für fähig hielt, haben protestiert. Das verdrängte individuelle Leiden hat sich wieder in gemeinsamen Aktionen artikuliert. Nein, ein Wunder, wie Bourdieu zu den Arbeitslosenprotesten meinte, ist dies nicht gewesen, sondern Folge eines gewandelten Diskurses, zu dessen Zustandekommen er selbst beigetragen hat.

Bourdieu geht es in seiner Untersuchung weniger um materielles Elend als vielmehr um das Leiden an sozialen Hierarchien, das ihn bereits in seinen Büchern „Die feinen Unterschiede“ und „Homo academicus“ beschäftigt hat: von unterschiedlichem Zugang zu ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Das Elend hat sich seit den siebziger Jahren allerdings verschärft. In den „feinen Unterschieden“, 1979 erschienen, betont Bourdieu noch die symbolischen Unterschiede, mit denen sich die oberen und mittleren Schichten von Kleinbürgertum und Arbeitern in einer Zeit abgrenzen, in der die ökonomischen Differenzen geringer geworden sind. Am Besuch der „legitimen“ Theaterstücke, am Musikgeschmack und den Eßvorlieben erkennen sich die Angehörigen derselben Klasse. In den neunziger Jahren, unter dem Druck hoher Arbeitslosigkeit, bei zunehmendem Konkurrenzdruck und dem Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung, sind aus eher symbolischen Fragen wieder harte Auseinandersetzungen, aus eher feinen wieder grobe Unterschiede geworden.

Bourdieu und sein Team lassen die Betroffenen in Interviews selbst zu Wort kommen: die deklassierten Beurs in den Banlieues, die mit dem Lernen auf nutzlose Diplome beschäftigt werden; die letzten Stammarbeitnehmer in den Peugeot-Werken, die mehr und mehr Konkurrenz durch Leiharbeiter bekommen; die Fossilien der gewerkschaftlichen Organisation; die im Niedergang befindlichen Landwirte und Winzer.

Leiden an der Gesellschaft betrifft aber auch diejenigen, die mit seiner Verwaltung konfrontiert sind. Sozialarbeiter, liberale Richter, Lehrer und Polizisten, die sich in den Institutionen, die sich um die Nöte der Ausgegrenzten nicht mehr kümmern und die gegen Versuche zu ihrer Veränderung taub geworden sind, aufreiben. Dazu gehören auch Journalisten, die um jede Minute der kritischen Berichterstattung in den privaten Medien kämpfen müssen.

Die Interviews werden nur vorsichtig kommentiert, eine Einordnung der dargestellten Probleme bleibt weitgehend dem Leser überlassen. „Nicht bemitleiden, nicht lachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen“ war das Arbeitsmotto der Soziologen – die Befragten sollen nicht als „klinische Fälle“ erscheinen. Ein Arbeitsansatz, der allenfalls dann in Gefahr gerät, wenn der Befragte Le Pens Front National angehört oder sich allzu offensichtlich darum bemüht, sein Leiden zu verbergen.

Was bleibt den Ausgegrenzten, um sich zur Wehr zu setzen? Bourdieu mißtraut der Politik, die sich nur noch um ihre internen Rivalitäten drehe: „Die Regierenden sind Geisel ihres sich aus Jungtechnokraten rekrutierenden Umfeldes, wo man so gut wie nichts vom Alltagsleben normaler Mitbürger weiß.“ Eine wirklich demokratische Politik müsse sowohl der Kapitulation vor den Regeln des Marktes als auch der „technokratischen Arroganz, die beansprucht, die Menschen zu ihrem Glück zwingen zu wollen“ entgehen. Hoffnungsträger bleiben die sozialen Bewegungen. Das mag sich gerade angesichts der Erfahrungen mit der deutschen Bewegungsoffenheit der siebziger und achtziger Jahre, in der Bewegungen immer als Gegensatz zu jeglichen Institutionen gedacht wurden, ein wenig anachronistisch anhören, ist es aber nicht. Die französischen Bewegungen haben schon früher eine Politik des bargaining by riot verfolgt, also militant die eigenen Rechte eingeklagt, ohne die grundsätzliche Legitimation der staatlichen Strukturen in Frage zu stellen. Nach dem Ende des Systemdenkens eine höchst zeitgemäße Form sozialer Massenbewegungen, vielleicht die einzig realistische.

Dennoch hinterläßt die Lektüre Bourdieus eine gewisse Unzufriedenheit. Bourdieu beschäftigt sich nur mit den psychischen Verheerungen, die staatliche Politik bei ihren Opfern anrichtet, nicht aber mit den Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Politik. Dadurch erhält das Buch jenen moralisierenden Beigeschmack, der Viviane Forresters Bestseller „Der Terror der Ökonomie“ oder auch Le Monde diplomatique auszeichnet. Unklar bleibt letztlich, inwieweit das „Elend der Welt“ auf die neoliberale Politik zurückzuführen ist oder einfach auf die unvermeidlichen funktionalen Ausdifferenzierungen der Moderne.

Ob auch nach dem Ende des Systemdenkens politische Veränderungen weiterhin nur im Gegensatz „moralisch fundierte Massenbewegungen“ contra „technokratische Veränderungen von oben“ gedacht werden? Wer wissen will, warum sich in Deutschland keine Arbeitslosenbewegung erhebt, der muß auch den Diskurs der führenden politisch engagierten Soziologen wie Ulrich Beck verfolgen. In seiner Person symbolisiert sich das Dilemma der parlamentarisch orientierten Überreste der deutschen sozialen Bewegungen: Sie sind zu Technokraten geworden, obwohl sie keine sein möchten. Ihr Handeln findet nur noch in den offiziellen Gremien statt.

Dabei geht offenbar der präzise Blick für soziale Leiden und Hierarchien verloren. 1995 veröffentlichte Ulrich Beck zusammen mit Ulf Erdmann Ziegler und dem Fotografen Timm Rautert den Band „Eigenes Leben“. Was zu einer mit Bourdieus Studie vergleichbaren Bestandsaufnahme Deutschlands hätte werden können, wurde zu einer emphatischen Feier der Individualisierungsprozesse, die mit dem Rückzug des Staates aus seinen Aufgaben verbunden sind. Die Biographien der Porträtierten erscheinen allesamt merkwürdig geglättet, wie für eine Bewerbung abgegeben: so, als sei die alte Mittelschichtsfiktion, sein eigenes Leben selbst zu schaffen, endlich Wirklichkeit geworden.

Zu dieser Sichtweise mag beitragen, daß Ulrich Beck für unerheblich hält, was für Bourdieu Voraussetzung sozialwissenschaftlicher Analyse ist: die eigene Verankerung im sozialen Raum genau zu definieren, weil dies den Standpunkt des Analysierenden mitbestimmt. Ulrich Beck lehrt in München und wohnt am Starnberger See – dort, wo das München-Klischee sich selbst für die Wirklichkeit hält.

Pierre Bourdieu: „Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft“. Universitätsverlag Konstanz, 1997, 68 DM