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Unter den Verzweifelten auf Kundenfang

■ In raffinierter Erzählweise entwickelt Atom Egoyan in seinem Film „Das süße Jenseits“ die Geschichte des großen Busunglücks, das eine kleine Gemeinde ihrer Kinder beraubt

Vater, Mutter, Kind. Im Schlaf haben sie die Decke von sich geworfen. Sie lächeln. Die Kamera betrachtet die Schläfer aus der Draufsicht. Aus ihrer Neigung spricht Skepsis. Denn was für ein Ort ist das, und zu welcher Zeit soll es ihn gegeben haben?

Die Idylle des rätselhaften Anfangs wird in Atom Egoyans Film „Das süße Jenseits“ abgelöst von einer Szene der Pein. Ein Mann sitzt in einer Autowaschanlage fest. Seine Resignation wächst mit einem Anruf seiner Tochter Zoe. Zoe ist Mitte zwanzig. Ihr Gesicht wirkt alterslos in seiner Gier nach Heroin. Zoes Vater, der Anwalt Mitchell Stephens (Ian Holm), glaubt, alles zu ihrer Rettung versucht zu haben. Stephens hat seine Tochter verloren wie die Eltern der Kleinstadt Sam Dent in British Columbia ihre Kinder. Der Unterschied ist, daß die Kinder von Sam Dent bei einem Busunfall getötet wurden. Unter den Verzweifelten geht Stephens auf Kundenfang.

Die Eltern sollen eine Schadensersatzklage anstrengen. Aber gegen wen? Zwar sind die Walkers bereit, Stephens zu engagieren. Doch selbst sie wissen, daß Dolores, die Fahrerin des verunglückten Schulbusses, die Umsicht in Person ist. Der Bus ist an einer vereisten Stelle von der Straße abgekommen, über eine Böschung auf einen zugefrorenen See gerutscht und eingebrochen. Aber könnte, insistiert der Anwalt, nicht irgendein Arbeiter, der bei der Herstellung des Fahrzeuges gepfuscht hat, zur Verantwortung gezogen werden? Dies gilt es den Familien einzureden. Dies gilt es der dreizehnjährigen Nicole (Sarah Polley) abzuschmeicheln, die mit Dolores überlebt hat. Nur daß Nicole den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen wird. Aber die Dinge sind nicht, wie sie sind. Die Rekonstruktion des Unfalls wird in Egoyans raffiniert die Erzähltempi durchkreuzenden Film mannigfach durchbrochen: von der Zeit davor, die für jeden in einem anderen Rhythmus vergangen ist. Von der Zeit danach, die für alle stockt. Von Mitchell Stephens Erinnerung an seine Familie, die in einem anderen Leben, in den paradiesischen Bildern des (Film-)Anfangs Schlaf und Zuversicht miteinander teilte und nun auseinanderfällt: polemischer Vater, abwesende Mutter, süchtiges Kind.

Und die Eltern von Sam Dent? Vor dem Anwalt sprechen sie über ihre Gemeinde. Ob im guten, im schlechten, die Bilder konterkarieren ihre Aussagen. Die zarte Nicole hat sich auf ein Leben als Rocksängerin vorbereitet. Ihre ätherische Stimme schwebt über dem Film wie die Kamera, die sich in tranceähnlichen Passagen an die Leere des Himmels klammert, den Schock einer Stadt ohne Kinder widerspiegelnd. Aber als Mädchen, das niemand wirklich kennt, hat Nicole auch ein Verhältnis mit ihrem Vater. Das Inzestthema aus „Exotica“ kehrt hier zurück, verwandelt von Kerzen an heimlichen Orten und einer unheimlichen Begierde. Erst gelähmt kann sich Nicole der falschen Vaterliebe entziehen, eine grausame Entwicklung, aus der der Film eigenwillig Hoffnung schöpft. Das Mädchen ruht nach dem Unfall in sich, würdevoller und kämpferischer als die äußerlich unversehrten Erwachsenen. Nicole ist es auch, die Robert Brownings Gedicht vom Rattenfänger zu Hameln ins Spiel bringt. Die Geschichte von der Stadt, die den Rattenfänger um seinen Lohn betrügt und ihrer Kinder beraubt wird, ist das Leitmotiv des Films. Es überhöht das Geschehen mythisch und schreibt sich als Parabel des Medienzeitalters zugleich unserem Leben ein. In der facettenreichen und ambivalenten Sprache des Films hat der Rattenfänger viele Gesichter. In dem Anwalt, der zu trauern versteht, erkennt Nicole den Rattenfänger der Moderne. Gleich dem lahmen Kind, das im Gedicht den anderen hinterherhinkt und die versprochenen Wunder verpaßt, wird Nicole eine Lüge erzählen. Und lügend die Wahrheit in Schutz nehmen, die es der Stadt ohne Zukunft ermöglicht, den Schmerz der Gegenwart zu bewältigen. Nicole hat das „wundersame Portal“ des Gedichts gesehen, das sich auftat; über dem See, der sich den Kindern von Sam Dent als Passage in das Land jenseits aller Vorstellungen bietet. Alles, hat der Tod auch ihr versprochen, würde „fremd und neu“ sein. Als Grenzgängerin verkörpert Nicole die Tragödie des Weiterlebens – und spricht sich für die Rückkehr zur Normalität aus. Im Off aber beschwört ihre Stimme das „süße Jenseits“. Heike Kühn

„Das süße Jenseits“. Regie: Atom Egoyan. Mit Ian Holm, Sarah Polley u.a. Kan. 1997, 110 Min.

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