■ Sexforscher Gunter Schmidt zum rasanten Wandel der Verhältnisse zwischen Frau und Mann: „Aus Kampf wird Spiel“
Gunter Schmidt, 60 Jahre, ist Professor an der Abteilung für Sexualforschung der Hamburger Universität. Seit Ende der sechziger Jahre gilt er als einer der profiliertesten Wissenschaftler auf seinem Gebiet. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Sexualität. Im Mai erscheint im Rowohlt- Verlag sein Buch „Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral“.
taz: Die taz-Frauen haben uns heute hierherbestellt, um mit Ihnen ein Interview über Sex zu machen.
Gunter Schmidt: Wie die kleinen Jungen, von der Mutter geschickt?
Um über schmutzige Sachen zu reden?
Ein wenig darüber zu plaudern – aber nicht zu frech? Dann erfüllen wir doch einfach die mütterlich-schwesterlichen Wünsche.
Das ist bestimmt eine Falle.
Gut, tappen wir fröhlich hinein.
Also: Heute wird ständig über Sex gesprochen, und gleichzeitig klagen viele über Langeweile und Lustlosigkeit. War früher alles besser – auch der Sex?
Nein; der Sex war früher aber auch nicht schlechter.
Aber irgend was ist anders als früher.
Natürlich. Nur haben es Männer und Frauen damals – zuweilen – geschafft, die Spannung zwischen den Geschlechtern, die Zwietracht, die Unterdrückung in ihrer Erotik spielerisch zu inszenieren und komplizenhaft aufzuheben. Was früher anders war, habe ich einmal mit einer Szene aus Milan Kunderas Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ beschrieben.
Wo das klassische Machtverhältnis zwischen Mann und Frau spielerisch inszeniert wird.
Die Frau fühlt sich in einer Szene erniedrigt, aber statt sich dagegen zu verwahren, spielt sie mit, offensiv, stolz und provozierend. So triumphiert sie über die vermeintliche Macht des Mannes, führt sie ad absurdum, aber auf eine Weise, die von dem Mann mitgenossen wird. Das war eine spezielle Form vorfeministischer Erotik. Eine geheime und gemeinsame Verschwörung gegen die Geschlechtsrollenzumutungen.
Heute funktioniert das bekanntlich nicht mehr so. Ist der Feminismus etwa schuld an der sexuellen Langeweile, die viele Menschen verspüren?
Was heißt Schuld? Das gewachsene Selbstbewußtsein der Frau hat dazu beigetragen, daß man heute offener über sexuelle Langeweile sprechen kann.
Die Überwindung der Geschlechterklischees hat eine Freiheit zur Lustlosigkeit hervorgebracht?
Ja, im übrigen auch beim Mann. Er muß nicht mehr, unabhängig von Gefühlen und Konflikten, in allen Situationen bereit und potent sein. Die Heterosexualität hat die schwersten Erschütterungen in den letzten achtzig Jahren durch die Veränderung des Geschlechterverhältnisses erfahren. Dafür war der Feminismus wichtig; das neiden wir Männern den Frauen ja auch.
Was neiden wir denen?
Daß sie eine politische Bewegung auf die Beine gestellt haben, die sehr viel verändert hat. Aber die Frauenbewegung konnte wohl nur deswegen soviel durchsetzen, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse danach schrieen. In einer modernen Dienstleistungsgesellschaft sind ganz andere Qualitäten gefragt als in der traditionellen, „männlichen“ Industriegesellschaft. Ich glaube, daß der Kapitalismus als Gesellschaftsform eher geschlechterneutral ist. Es ist egal, wer den Profit erwirtschaftet.
So gesehen lief der Feminismus – wie die Studentenbewegung – offene Türen ein.
Der Feminismus war vor allem ein wichtiger Katalysator. Aber daß die Frauen die Macht dazu hatten, ihre Themen immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen, sich Gehör zu verschaffen und ihre Positionen durchzusetzen – das zeigt doch, daß eine objektive Notwendigkeit dafür bestand, es zu tun.
Fühlt sich der heterosexuelle Mann am meisten irritiert von den neuen Ansprüchen – ständig ins Visier genommen von der Frauenbewegung und der Bewegung der Schwulen und Lesben?
Das muß den heterosexuellen Mann in der Tat sehr kränken – gleich von zwei Seiten so in Frage gestellt zu werden – aber nur dann, wenn er selbst noch am traditionellen Männerbild hängt. Dann hat er viele scheinbare Privilegien zu verlieren. Ich sage scheinbar, weil sie ihn auch einen Preis gekostet haben. Immer leistungsbereit, immer stark, immer dominierend, nie schwach und empfangend.
Worin genau besteht denn die Verwirrung des Heteromannes?
Er erkennt, daß er als Mann von den Frauen nicht unbedingt geliebt wird und daß er als Mann auch Männer lieben könnte. Die „normale“ Sexualität, Heterosexualität, wird zu einem von vielen Lebensstilen, eine von vielen möglichen Arten, sexuell zu sein.
Sind da die jüngeren Männer von heute nicht schon anders als ihre Väter?
Viele von ihnen ja, das belegen unsere Untersuchungen. Die wollen sich zum Beispiel die Freuden und Plagen an der Kindererziehung nicht mehr nehmen lassen.
Gibt es auch für die Frauen Gründe, irritiert zu sein?
Der Umbruch traditioneller Geschlechtsrollen ist auch für viele Frauen nicht leicht. Psychologinnen haben oft darüber geschrieben, wie schwierig es die Müttergeneration der sich feminisierenden Frauen hatte, die Mißachtung ihrer Töchter zu ertragen. Das geht den Vätern mit den Söhnen vielleicht ähnlich. Aber hier ist die Mißachtung wenigstens gegenseitig.
Uns kommt es so vor, als ob die Frauen den Männern kaum Zeit geben, ihre Rolle als neuer Mann zu lernen.
Warum sollten sie auch. Und wollen wir wirklich wieder einmal nach den fürsorgenden Müttern und Schwestern rufen, ein wenig wehleidig?
Ist das auch ein Grund dafür, daß die Leidenschaft zwischen Männern und Frauen verlorengeht? Als Gemütszustand findet man Leidenschaft jedenfalls nur noch in der Literatur. Heute traut sich niemand mehr, von überwältigenden Gefühlen, von erotischer Spannung zu schreiben.
Der Begriff „Leidenschaft“ ist heute genauso obsolet wie der der „sexuellen Sünde“. Beides gehört zur alten Sexualmoral und -verfassung. Und die sind in sich zusammengebrochen, weil sich die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern geändert haben – zugunsten der Frauen.
Und was ist an die Stelle der alten Sexualmoral getreten?
Ein neuer Kodex, der den sexuellen Umgang friedlicher, kommunikativer, berechenbarer machen will. Alles soll verhandelt werden. Sexualität ist etwas, was von zwei Menschen Schritt für Schritt „ratifiziert“ wird. Alles andere wird für ein pathetisches Verständnis von Sexualität gehalten. In den neunziger Jahren ist auf diese Weise aus der Sexualmoral eine Verhandlungsmoral geworden.
Aber wo bleibt dann die Leidenschaft?
Für Männer bedeutet die neue Verhandlungsmoral vielleicht eine Einschränkung. Und viele maulen – ein Mann meiner Generation, schon etwas altbacken, versteht das ganz gut. Für Frauen aber bedeutet Verhandlungsmoral Verläßlichkeit. Spielregeln werden eingehalten. Das gibt vielen Frauen erst die Freiheit, selbst offensiv zu sein.
Und was ist das Ergebnis? Die Entsexualisierung der heterosexuellen Beziehung?
Jedenfalls wird oft über Lustlosigkeit geklagt. Wo auch immer ich einen Vortrag über sexuelle Langeweile halte – die Säle sind voll. Die Verhältnisse sind vermutlich nicht langweiliger als früher, aber heute wird von einer guten Beziehung erwartet, daß in ihr leidenschaftlicher Sex stattfindet.
Das ist häufig nicht der Fall.
Und die meisten wollen befriedigenden Sex nur in einer festen Beziehung. Unsere Befunde besagen, daß die meisten nur Singles für eine kurze Zeit sein wollen – weil ihnen der Sex als Single zu schwer zu organisieren, zu aufwendig und zu selten ist.
Ein klassisches Dilemma.
Ja. Gemessen an der Tatsache, daß heute überall und ununterbrochen über Sex gequatscht wird, wirken heterosexuelle Paare oft sehr entsexualisiert. Früher lasen die Leute den Kinsey-Report und waren erleichtert, nachlesen zu können, daß die Nachbarn die gleichen verbotenen Dinge treiben wie sie. Heute dagegen sind die meisten Paare darüber erleichtert, daß die anderen genauso selten und ebenso wenig exotischen Sex haben wie sie.
Wird Sexualität zunehmend als Last empfunden?
Auch. Aber viele fragen sich: Warum soll ich so oft?
Was heißt denn oft?
Das weiß ich nicht.
Zweimal pro Woche?
Das wäre hoch, sagen wir für Paare, die einige Jahre zusammen sind. Heute wird weder die Luthersche noch die Kinseysche Norm erfüllt, also weder drei- noch viermal die Woche miteinander geschlafen.
Liegt das daran, daß Frauen und Männer genauer prüfen, mit wem sie ins Bett gehen wollen?
Es hat mehr mit dem frustrierenden Ideal zu tun, daß zu einer Beziehung leidenschaftliche Sexualität gehört. Wenn das nicht der Fall ist, hat man Zweifel an der Beziehung und an seinem Partner. Bin ich ein guter Liebhaber, eine gute Liebhaberin? Bin ich überhaupt attraktiv? Sexualität hat einen solch zentralen Rang eingenommen, daß es heute viel schneller als früher zu solchen Entwertungserlebnissen kommt.
Woher rührt dieser höhere Anspruch?
Was haben Beziehungen heute noch – außer Emotionen und Sex? Der britische Soziologe Anthony Giddens spricht von „reinen Beziehungen“.
Rein im moralischen Sinne?
Nein, es bedeutet, daß die Beziehung nicht mehr durch materiale Grundlagen oder Institutionen geschützt wird. Sie wird um ihrer selbst willen eingegangen, sie hat nur sich selbst und besteht nur, solange sich beide darin wohlfühlen. Sex spielt für uns dabei eine große Rolle – noch. Wenn es mit dem Sex aus ist, dann ist auch die Beziehung bedroht.
Was heißt das für die Zukunft?
Es geht vermutlich nur so, daß Sexualität in Zukunft gar nicht mehr so wichtig genommen wird für eine feste Beziehung. Man wird mit ihr gelassener umgehen. Für Giddens ist Sexualität nur ein Teil der Intimität, die zwei Menschen miteinander teilen können, und nicht einmal der wichtigste.
Wie verstehen Sie unter Intimität?
Eine Verbundenheit zweier Menschen, zu der eine gemeinsame Geschichte gehört, Anteilnahme, ein Vertrauen, ein Sich- Öffnen... Na ja, mir wird ein wenig schummerig bei so hehren Ansprüchen.
Sprechen Sie nicht eher von Freundschaft?
Wenn Sie das so sehen. Jedenfalls werden sich Sexualität und feste Beziehung in Zukunft wohl stärker voneinander emanzipieren. In vielen homosexuellen Beziehungen wird das schon vorgelebt.
Und die heterosexuellen Paare machen das jetzt nach?
Noch nicht so recht. Schwule haben oft außerhalb ihrer Beziehung Sex, ohne daß es die Beziehung berührt. Für sie hat Außensex, so scheint es, nicht mehr diese Dramatik.
Gibt es in diesen modernen Beziehungen keine Verlustängste?
Doch. Eine Liebe, die Freiheit mit dem „Gespenst der Unsicherheit“ verbindet, macht angst. Ich will nichts idealisieren, ich versuche nur zu beschreiben, welche neuen Arrangements es geben kann. Es gibt auch andere Möglichkeiten, wie sich die Sexualität aus der Beziehung auslagert.
Welche?
Die Masturbation zum Beispiel. Sie hat sich als autonome Form der Sexualität etabliert und wird nicht mehr als Ersatz, als mindere Art von Sexualität erlebt. Sondern als etwas, das unabhängig von der Zufriedenheit mit der Partnerschaft gelebt wird. Man kann mit ihr auch den hohen Anforderungen zeitgemäßer Partnersexualität entgehen.
Also als eine Art Flucht?
Nein, als Selbstbefriedigung, nicht mehr und nicht weniger. Bis in die siebziger Jahre glaubte man doch, mit der Sexualität des Mannes sei es wie mit einem Dampfkessel auf dem Feuer. Wenn der Kessel nicht platzen sollte, dann mußte ab und zu der Dampf abgelassen werden. Sex im Zeichen des Dampfkessels war umstandslos, wie Zähneputzen, fünf Minuten lang, kurz nach den Tagesthemen.
Und heute?
Die Sexualität in den neunziger Jahren ist von Psychologie und Ästhetik geprägt und wird aufwendig. Alles soll stimmen: Körper, vibrations, Gefühl zum Partner, Umgebung und Zärtlichkeit. Und nach dem Sex sollten beide nicht sofort einschlafen.
Macht nicht gerade das den Sex so kompliziert?
Ja. Zumindest für taz-LeserInnen ist Sex, dem Anspruch nach, längst eine Art Kunstwerk geworden. Das ist anstrengend und nicht jeden zweiten Tag produzierbar.
Und darunter leiden sie dann. Sie bleiben bei Ihrer These, daß Sex in Zukunft nicht mehr so wichtig genommen wird für eine feste Beziehung?
Ja. Wir sollten uns auch von der Vorstellung lösen, es sei wichtig, wie oft man miteinander schläft. Eine etwas triste Art der Qualitätssicherung. Die einen treiben es jeden Tag miteinander, auch wenn das ziemlich zeitraubend ist, und die anderen nur einmal im Jahr – wenn's nur beiden gefällt. Wenn wir das begreifen, wird aus dem sexuellen Kampf zwischen Männern und Frauen vielleicht ein aufregendes Spiel zwischen ihnen.
Interview:
Jan Feddersen/Jens König
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