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„Patienten werden gefährlich geredet“

Therapeuten von psychisch kranken Straftätern beklagen eine „Sündenbock-Mentalität“. Bei der 13. Eickelborner Fachtagung für Forensische Psychologie standen die Themen Sicherheitsbedürfnis, Angst und Ausgrenzung im Mittelpunkt  ■ Von Heide Platen

Ein böses Ende: die beiden Tunichtgute Max und Moritz in Müllers Mühle zerschrotet und entsorgt. Das Motiv der „13. Eickelborner Fachtagung zu Fragen der Forensischen Psychiatrie“ machte das Dilemma zum Thema.

Das Westfälische Zentrum für Forensische Psychiatrie in Eickelborn am Rande des Münsterlandes ist bundesweit die größte Klinik für psychisch kranke Straftäter – und mit 390 Fällen hoffnungslos überbelegt. Die Erbitterung der über 300 Pfleger, ÄrztInnen, TherapeutInnen und AnalytikerInnen aus sechs europäischen Ländern prägte immer wieder die Fachdiskussion. Seit fast zwei Jahren wird in Nordrhein-Westfalen öffentlich und polemisch um mögliche neue Klinikstandorte gestritten.

Das hat den Leiter der Abteilung III, in der von Gerichten eingewiesene Straftäter behandelt werden, zum Philosophen werden lassen. Ulrich Kobbé räsonnierte in einem Vortrag in eigener Sache über die mangelnde „politische Ethik“ in der Gesellschaft. Die Diskussion sei voller „Gewalt- Rhetorik“ und „aggressiviert-moralisierender Demagogik“. Er warf Bürgerinitiativen gegen Klinikneubauten die Egozentrik der Rechtschaffenen vor. Schlimmer noch aber sei das undifferenzierte „Betroffenheitsgesülze“, eine „moralische Nötigung“, die sich einseitig gegen die Kranken und deren Behandler richte. Zum repressiven Klima trügen auch die Medien mit ihren Sensationsberichten über Sexualstraf- und Rückfalltäter bei. Es sei, so Kobbé, „illusionär“, in der heutigen Moderne das Recht des einzelnen „auf eine delinquenzfreie Lebenswelt in einer Weise einzufordern, die keinerlei Differenzierung mehr zuläßt“.

Vom Tagungsthema, dem „Maßregelvollzug im Widerstreit zwischen gesellschaftlichem Auftrag und öffentlicher Meinung“, könne nicht die Rede sein, solange Widerstreit und Diskurs nicht stattfänden, sondern Therapeuten und Patienten von der emotionalisierten Öffentlichkeit „in eskalativem Konfliktverhalten mit selbstverstärkender Wirkung“ gemeinsam ins gesellschaftliche Abseits gedrängt würden.

So verlangt etwa die Bürgerinitiative in Eickelborn, daß jeder Patient beim Ausgang von einem Pfleger begleitet wird. Dies hält Kobbé in bezug auf eine sinnvolle Therapie für kontraproduktiv. Solche Art der Begleitung versperre den Patienten vielmehr den Weg zurück in die Selbständigkeit.

Daß die öffentliche Meinung Kranke noch kränker machen kann, belegte eine erste Untersuchung des Eickelborner Mediziners und Psychotherapeuten Martin Flesch, der bei seinen Patienten während der heftigen Mediendiskussion um die Klinikneubauten eine erhöhte Zahl psychosomatischer Erkrankungen diagnostizierte. Die öffentliche Debatte, so Kobbé am Rande der Tagung, nehme nicht nur den Patienten die Hoffnung auf ihre Zukunft in der Gesellschaft, sondern demotiviere auch die Therapeuten: „Aber Hoffnung ist ein wesentlicher Faktor der Therapie. Auch die Hoffnung des Therapeuten, aus der sich die Hoffnung des Patienten schöpft.“ Die Realität sei gegenläufig: „Unsere Patienten werden pauschal gefährlich geredet.“ Damit leiste sich die Gesellschaft in ihrem Wunsch nach mehr Sicherheit „einen Bärendienst“, denn so entstehe eine unheilvolle Spiralbewegung, in der die Patienten im Vorurteil ihre „eigene Hochgefährlichkeit bestätigt“ und jeden Rückweg versperrt sehen. Damit gehe das Ziel der Therapie verloren und pervertiere sie zur „Als- ob-Behandlung“.

Die meisten Experten forderten eine funktionsfähige Größe der Patientenzahl, die bei ungefähr 100 pro neuer Einrichtung liegen könne. Kleinere Gruppen seien nicht wirtschaftlich. Sie warnten vor allem vor Plänen, Krankenhauspsychiatrien zur Entlastung bestehender Einrichtungen „Forensik-Betten anzupappen“. Zur Versachlichung des Themas, so der Eickelborner Diplomsoziologe Bernd Dimmek, könnte auch eine erste Studie über die Rückfälligkeit von entlassenen Patienten beitragen.

241 der nach den Paragraphen 63 und 64 des Strafgesetzbuches eingewiesenen und wieder entlassenen Patienten waren untersucht und die Rückfallquote detailliert aufgeschlüsselt worden. Die lag „deutlich niedriger“, „als man in Anbetracht spektakulärer Einzelfälle vermuten mag“. Keiner der aggressiven Gewalttäter sei wieder straffällig geworden.

Die Studie verschweige aber auch nicht, daß gerade über die Ursachen der Rückfälligkeit von Sexualstraftätern weiter geforscht werden müsse. Da seien die Ergebnisse mit 27 Prozent „teils bedenklich hoch“. Mitgezählt worden seien aber auch so relativ harmlose Auffälligkeiten wie Exhibitionismus. Es gäbe allerdings auch in Eickelborn kaum therapierbare Langzeitpatienten, „zu denen auch uns nichts mehr einfällt“. Es sei jedoch der falsche Weg, diese isoliert zusammenzulegen. Eine zweite, umfangreichere Untersuchung soll bis zum Ende des Jahres vorgelegt werden.

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