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Sibirien als Genius loci

Zwei Konzeptionen, das Dasein zu meistern – mit Scharnier. Noten zur russischen Intelligenzija  ■ Von Helmut Höge

Die Folgen der nachgeholten – bolschewistischen – Modernisierung bedrohen erneut die russische Intelligenzija: „Dead again!“ wie sich die Moskauer Schriftstellerin Masha Gessen bereits im Titel ihres US-Buches über diese Spezies äußert. Als soziale Gruppe entstand sie in Rußland erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts und fand dann ihren wichtigsten Bezugspunkt im Leben und Werk von Puschkin, den sie bis heute nicht verloren hat. Ihr hoher moralischer Anspruch war ebenso persönlich wie stets aufs Ganze gerichtet. 1863 veröffentlichte Nikolai Tschernyschewski die Erzählung „Was tun?“. Der Philosoph und Dichter schrieb sie in der Peter- und-Paul-Festung, er wurde dann 19 Jahre nach Sibirien verbannt. In „Was tun?“ skizzierte er für die kommende Intelligenzija den „Neuen Menschen“ – den Revolutionär als „Beweger“. „Wir lasen es mit gebeugten Knien“, erinnerte sich ein ebenfalls nach Sibirien Verbannter, der sich davon mit vielen anderen zusammen zum Terrorismus inspirieren ließ. Die zweite Beantwortung der russischen Frage „Was tun?“ stammt aus dem Jahr 1902 von Lenin und befaßte sich mit dem bolschewistischen Parteiaufbau, der Avantgarde. Lenin entwickelte darin die Konzeption des Berufsrevolutionärs, den die objektiven Interessen der Arbeiterklasse bewegen. 1997 erschien auch noch ein drittes Werk mit dem Titel „Was tun?“: eine Beantwortung der „russischen Frage“ auf einem Kolloquium der Deutschen Bank mit Siemens, Daimler-Benz und entsprechenden „Verantwortlichen“ in Rußland. Der Titel ist Hilmar Koppers Referat entnommen, der darin ein Bewegungs-„Programm“ entwirft, „das Macht, Geist und Geld zusammenführt“. Es ist die Fortsetzung dessen, was Gorbatschow „umzusetzen“ versucht hatte, nämlich eines der Szenarien, die bereits unter seinem Vorgänger Andropow von verschiedenen ZK-„Braintrusts“ ausgearbeitet worden waren, um den Machterhalt der Parteielite in einer vom „Neuen Denken“ bestimmten sozialistischen „Transformationsperiode“ zu gewährleisten: „durch Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder“ – so der ehemalige ZK-Mitarbeiter Jewgeni Nowikow 1994 in New York.

Wiewohl man die Herausbildung der Intelligenz als „klagende Klasse“ (Wolf Lepenies) mit Emile Zola anheben läßt, erreichte sie etwa zur gleichen Zeit im „rückständigen Rußland“, wo sie am konsequentesten die Partei der „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski) ergriff, ihre stärkste moralische Kraft. Nirgendwo sonst auch wurde sie derart verfolgt, wobei – beginnend mit den Dekabristen – Zigtausende nach Sibirien verbannt wurden, starben oder emigrierten. Was sich aus diesem Typus in Rußland an Studentenprotest, Frauenbewegung, Kommunen und Terrorismus entwickelte, nahm die westeuropäische 68er Bewegung und ihren weiteren Verlauf – 100 Jahre vorher bereits – vorweg. Dennoch war auch für die sowjetische Dissidentenbewegung, besonders für ihre Sprecher Solschenizyn und Sacharow, 1968 ein entscheidendes Jahr: Solschenizyn beendete den „Archipel Gulag“ und begann sich öffentlich für „Regimegegner“ einzusetzen, für Sacharow wurde der Einmarsch der Roten Armee in Prag zum „Wendepunkt“. Beide knüpften wieder bei der alten russischen Intelligenzija an – und nahmen sich explizit Puschkin zum Vorbild.

Für die Literatur dieser Epoche war es laut Rosa Luxemburg kennzeichnend gewesen, „daß sie aus Opposition zum herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde“. Die nachrevolutionäre Literatur hatte zwar auch den Staatsterror zu fürchten, sie ließ sich aber vor allem durch das kommunistische Glücksversprechen ihren Kampfgeist abkaufen. Maxim Gorki scheint hierbei eine Art Scharnier gebildet zu haben: Mit seiner Parteinahme für das Proleteriat und Subproletariat gehörte er noch zur alten Intelligenzija. Nach der Revolution emigrierte er, kehrte jedoch – aus Geld- und Ruhmgründen, wie Solschenizyn meint – wieder nach Rußland zurück: Als sowjetischer Staatsschriftsteller, der sich nicht scheute, sogar „der Sklavenarbeit Ruhm zu singen“, das heißt, die ersten Arbeitslager des KGB propagandistisch zu verklären. Damit verkehrte sich das Engagement russischer Schriftsteller vollends in sein Gegenteil. Der in einem sibirischen Arbeitslager gestorbene Dichter Ossip Mandelstam schrieb 1929: „Es ist so weit gekommen... Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft.“

In den Samisdat-„Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ meinte Boris Jampolski noch 1975: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“

Während Tschernyschewskis „Was tun?“ ein Manifest der Intelligenzija war, wurde Lenins „Was tun?“ zu ihrem (eigenen) Nekrolog: „Zwischen 1936 und 1956 wurde die Intelligenzija in der Sowjetunion vernichtet“, resümiert Detlev Claussen. Michel Foucault unterschied 1977 den „universellen Intellektuellen“, dessen Ursprünge er bei Voltaire ansetzte und der vor allem von gebildeten Juristen verkörpert wurde, vom „spezifischen Intellektuellen“, der in seiner besonderen Stellung zur Macht, durch seine berufliche Tätigkeit selbst zum moralischen Widerstand gelangt.

Zum älteren Typus zählte Foucault auch noch Sartre, dessen Kriminalisierung De Gaulle einmal verhinderte mit der Bemerkung: „Einen Voltaire verhaftet man nicht!“ Sartre empfahl übrigens seiner Intelligenz, die Existenz sowjetischer Arbeitslager zu verschweigen: um die französischen Arbeiter nicht völlig hoffnungslos zu machen. Erst Foucault änderte dann Sartres Haltung zum „Gulag“. Das Scharnier zwischen beiden Intellektuellentypen war für Foucault der Atomphysiker Robert Oppenheimer. In der sowjetischen Dissidentenbewegung könnte man danach den „Vater der Neutronenbombe“ Sacharow als Repräsentanten der neuen „spezifischen“ und den Schriftsteller und Dichter Solschenizyn als Vertreter der (alten) „universellen Intellektuellen“ bezeichnen.

Das gilt auch für die Lagerliteratur-Verfasser Jewgenia Ginsburg und Warlam Schalamow. Solschenizyn, dem es stets darum ging, weniger zum Leben zu brauchen als mehr zu verdienen, schätzte außer den Samisdat- beziehungsweise Tamisdat-Werken dieser beiden vor allem die Sibirien-„Tagebuchblätter“ des sozialrevolutionären Terroristen Pjotr Jakubowitsch, der ihm wegen seiner „Kompromißlosigkeit“ nahestand. Sein „Archipel Gulag“, bei dem ihm 250 „Lagergenossen“ zuarbeiteten, werde für das Sowjetsystem einmal so „gefährlich wie eine Atombombe“ sein, schrieb er nach seiner Ausweisung 1975 in „Die Eiche und das Kalb“.

Vor kurzem führte der Petersburger Schriftsteller Daniil Granin Klage über das neuerliche Verschwinden der russischen Intelligenzija, die in den sechziger Jahren – vor allem „aus der Physik und später der Biologie“ – entstanden sei, als diese Spezialisten für die Macht wichtiger als die Beamten und sogar das Militär wurden. Für Granin ist die Intelligenzija ein „sozialer Begriff“, im Gegensatz zur westlichen „Intelligenz“, der ein „Persönlichkeitsbegriff“ sei, „fast ein Beruf“. Granin schrieb mehrere Romane über die „wissenschaftliche Sowjetintelligenz“, die sich mit der Industrialisierung und dem raschen Ausbau des Bildungswesens zu einer Art Mittelschicht entwickelte.

Der Sozialismus begünstigt „in seiner entwickelten Form“ – laut George Orwell – „sowieso eher die Mittelschicht als das Proletariat“. Aus Emigranteninterviews zog der US-Slawist Barber 1988 den Schluß, daß die „sowjetischen Arbeiter“ die offizielle Ideologie weit weniger verinnerlicht hätten als die „Intellektuellen“. Jetzt bildete sich seit 1992 im Zusammenhang mit der Reprivatisierung eine neue russische Mittelschicht heraus. Der ehemalige amerikanische Arbeitsminister Robert Reich nennt diesen – globalen – Mittelschichtstypus „Problemfinder“ beziehungsweise „-löser“. Dazu zählt er Werbetexter, Filmer, Pressesprecher und Journalisten, aber auch Broker, Gentechniker, Programmierer und so weiter. Diese dynamisch charakterlosen „Projektemacher“ neuen Typs bilden für ihn das glückliche Fünftel der neuen postsowjetischen Weltgesellschaft: die einzigen Gutverdiener. Die neue russische „Mittelschicht“ hat darin zwar weder Arbeitslager noch Psychiatrisierung zu befürchten, mit den ihr vorangegangenen aber noch dies gemeinsam, daß sie ständig von der Emigration versucht wird.

Granin beklagt den anhaltenden Massenexodus in den Westen. Wolf Lepenies „prognostizierte“ 1992 bereits, „daß in Europa zwei politische Kulturen aufeinanderstoßen“ werden – „auf seiten der armen Länder Intellektuelle mit hohem moralischem Kredit, aber ohne ausreichende Expertise, auf seiten der reichen Länder dagegen Fachleute mit hervorragender Expertise, die an moralischen Problemen nur mäßig interessiert sind“. Lepenies' karrieristische „Fachleute“ dürften mit den Reichschen „Problemlösern“ identisch sein, die Granin westliche Berufsintellektuelle nennt.

Wohingegen die „armen Intellektuellen“ nichts anderes als die sich immer wieder von Puschkins „ironischer Poesie“ (Jossif Brodsky) inspirieren lassende „Intelligenzija“ sind. Aus der Pierre Bourdieu neuerdings wieder eine „Front“ machen möchte! Ich vergaß zu erwähnen, daß schon Zola sich stark von Tschernyschewski beeinflussen ließ. Isaiah Berlin hielt dessen Intelligenzija gar für „den größten russischen Beitrag zum sozialen Wandel in der Welt“.

Der Westberliner Lepenies sorgte sich 1992 um die west-„europäischen Intellektuellen“. Im selben Jahr fürchtete der Ostberliner Volker Braun um die östliche „Intelligenzija“ – in einem Essay zur Neuherausgabe von Dostojewskis Puschkin-Rede, die dieser 1880 gehalten hatte: anläßlich der Einweihung des Puschkin-Denkmals, wo nicht zufällig ab 1980 auch die ersten Moskauer Protestdemonstrationen begannen. Volker Braun sah von Puschkins „Onegin“ über Trotzki bis zu Gorbatschow die „Verwirklichung“ ein und desselben „literarischen Typs“ am Werk, die für ihn gleichzeitig seine „Heraustreibung“ war. Vielleicht ist die politische oder wirtschaftliche Verbannung für die Intelligenzija am Ende wesentlich? Sibirien wäre demnach ihr Genius loci. Und Paris bloß so lala!

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